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Die Freude am Leben

Die Freude am Leben

Titel: Die Freude am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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War sie denn so kurz, diese Freude des Fleisches? Konnte man nicht unaufhörlich darein hinabtauchen, unaufhörlich neue Empfindungen darin entdecken, mächtig genug, um der Illusion vom Glück zu genügen? Eines Nachts wurde Lazare aus dem Schlaf geschreckt durch den eisigen Hauch, dessen leichte Berührung ihm die Nackenhaare sträubte; und er schlotterte und stammelte seinen Angstschrei: »Mein Gott! Mein Gott! Der Mensch muß sterben!« Louise schlief an seiner Seite. Es war der Tod, den er am Ende ihrer beider Küsse wiederfand.
    Dann kamen andere Nächte, er verfiel wieder seiner Qual. Es traf ihn, wenn er schlaflos dalag, wie von ungefähr, ohne daß er etwas voraussehen noch verhindern konnte. Mitten in den ruhigen Stunden packte ihn plötzlich der Schauer, während er im Zorn und in der Zerschlagenheit eines schlechten Tages oft nicht von der Angst heimgesucht wurde. Und es war nicht mehr das einfache Aufschrecken von früher, die Nervenzerrüttung nahm zu, die Nachwirkung jedes neuen Schocks erschütterte sein ganzes Wesen. Die Finsternis steigerte seine Beklemmung, er konnte nicht ohne Nachtlampe schlafen, trotz der ständigen Furcht, seine Frau könne sein Leiden entdecken. Darüber wurde sein Unbehagen noch größer, was die Anfälle verschlimmerte, denn früher, als er allein schlief, hatte er feige sein dürfen. Dieses lebendige Geschöpf, dessen Wärme er an seiner Seite fühlte, beunruhigte ihn. Sowie die Angst ihn, noch blind vom Schlaf, vom Kissen aufjagte, richtete sich sein Blick auf Louise, in dem verzweifelten Gedanken, sie mit offenen, groß auf die seinen gehefteten Augen zu sehen. Aber niemals rührte sie sich, er erkannte beim Schein der Nachtlampe ihr unbewegliches Gesicht mit den schlafgeschwollenen Lippen und den feinen blauen Lidern. Und so begann er ruhiger zu werden, als er sie eines Nachts, wie er schon lange gefürchtet hatte, mit weitgeöffneten Augen daliegen sah. Sie sagte nichts, sie sah ihn zittern und erbleichen. Ohne Zweifel hatte auch sie soeben gespürt, wie der Tod vorüberzog, denn sie schien zu begreifen, warf sich ihm an die Brust in der Verlassenheit eines hilfesuchenden Weibes. Da sie einander immer noch täuschen wollten, taten sie dann so, als hätten sie ein Geräusch von Schritten gehört, und standen auf, um unter den Möbeln und hinter den Vorhängen nachzusehen.
    Von nun an wurden sie alle beide von Zwangsvorstellungen verfolgt. Kein Geständnis entschlüpfte ihnen, es war ein beschämendes Geheimnis, über das man nicht sprechen durfte; nur in der Tiefe des Schlafgemachs, wenn sie mit weit offenen Augen auf dem Rücken lagen, hörten sie einander deutlich denken. Sie war ebenso nervös wie er, sie mußten dieses Übel wohl aufeinander übertragen, wie es auch geschieht, daß zwei Liebende von demselben Fieber dahingerafft werden. Wenn er erwachte und sie fest schlief, erschrak er über diesen Schlaf: Atmete sie noch? Er vernahm nicht einmal mehr ihren Atem, vielleicht war sie soeben plötzlich gestorben. Einen Augenblick betrachtete er prüfend ihr Gesicht, berührte ihre Hände. Wenn er dann beruhigt war, schlief er dennoch nicht wieder ein. Die Vorstellung, daß sie eines Tages sterben würde, stürzte ihn in finsteres Sinnieren. Wer würde als erster davongehen, er oder sie? Er hing den beiden Mutmaßungen nach, Todesbilder entrollten sich in genauen Darstellungen mit dem grauenvollen, herzzerreißenden Schmerz der Todeskämpfe, dem Greuel der letzten Zurüstungen, der gewaltsamen, ewigen Trennung. Dabei lehnte sich sein ganzes Sein vor Empörung auf: Sich nie, nie mehr wiedersehen, wenn man so miteinander, Fleisch an Fleisch, gelebt hatte! Und er fühlte, daß er wahnsinnig wurde, dieses Grauen wollte ihm nicht in den Schädel. In seiner Angst bekam er Mut und wünschte sich, als erster davonzugehen. Dann faßte ihn Rührung bei dem Gedanken an sie, er stellte sie sich als Witwe vor, wie sie ihre gemeinsamen Gewohnheiten fortsetzte, wie sie dieses oder jenes tat, was er nicht mehr tun würde. Um diese Zwangsvorstellung zu verscheuchen, nahm er sie zuweilen sanft in die Arme, ohne sie aufzuwecken; aber es war ihm unmöglich, sie lange an sich zu drücken, die Empfindung des Lebens, das er mit beiden Armen umfangen hielt, entsetzte ihn noch mehr. Wenn er den Kopf auf ihre Brust legte und ihr Herz schlagen hörte, konnte er seinem Pochen nicht ohne Unbehagen folgen, da er immer an eine plötzliche Störung glaubte. Die Beine, um die er die seinen geschlungen,

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