Die Freude am Leben
gut«, sagte er. »Ich schlafe in einem Sessel.«
Und während Véronique wütend das Bettzeug herausriß und in den zweiten Stock hinaufbrachte, empfand Pauline eine unbewußte Freude, eine plötzliche Fröhlichkeit; in einer Aufwallung ihrer alten Kindheitskameradschaft fiel sie Lazare um den Hals und wünschte ihm eine gute Nacht. Er bewohnte also wieder einmal sein großes Zimmer, so nahe bei ihr, daß sie ihn lange hin und her gehen hörte, gleichsam fieberhaft erregt durch die Erinnerungen, die auch sie wach hielten.
Am nächsten Tag erst begann Lazare, Pauline ins Vertrauen zu ziehen; und er beichtete nicht in einem Zuge, sie erfuhr die Dinge zunächst in kurzen, in die Unterhaltung eingeworfenen Sätzen. Kühn geworden, fragte sie ihn dann bald voll besorgter Zuneigung aus. Wie lebte er mit Louise? War ihr Glück noch immer ebenso vollkommen? Er bejahte, aber er klagte über kleine häusliche Verdrießlichkeiten, er erzählte belanglose Vorfälle, die zu Streitigkeiten geführt hatten. Ohne daß es zu einem Bruch gekommen wäre, litt die Ehe unter den tausend Reibereien zweier nervöser Temperamente, die unfähig waren, in der Freude und im Schmerz das Gleichgewicht zu bewahren. Es herrschte zwischen ihnen eine Art heimlichen Grolls, als hätten sie mit Überraschung und Zorn festgestellt, daß sie sich getäuscht, daß sie nach der großen Liebe der ersten Zeit ihren Herzen so schnell auf den Grund gekommen waren. Pauline glaubte einen Augenblick zu verstehen, daß Geldverluste sie verbittert hätten; aber sie täuschte sich, ihre zehntausend Francs Jahreszinsen blieben beinahe unangetastet, Lazare war nur der Geschäfte überdrüssig geworden, ebenso wie er der Musik, der Medizin, der Industrie überdrüssig geworden war; und über dieses Thema brach er in große Worte aus, niemals habe er eine dümmere noch verderbtere Welt erlebt als die des Geldes, er ziehe alles, die Langeweile der Provinz, die Mittelmäßigkeit eines kleinen Vermögens dieser ständigen Sorge um das Geld, dieser Hirnerweichung bei dem kopflosen Tanz der Zahlen vor. Im übrigen hatte er gerade die Versicherungsgesellschaft verlassen, er war entschlossen, es vom kommenden Winter an, sowie er wieder nach Paris zurückgekehrt wäre, mit dem Theater zu versuchen. Sein Stück sollte ihn rächen, er werde darin zeigen, daß das Krebsgeschwür des Geldes die moderne Gesellschaft verschlinge.
Pauline machte sich nicht allzu große Sorgen ob dieses neuen Versagens, das sie aus der Verlegenheit der letzten Briefe Lazares herausgespürt hatte. Was sie vor allem bewegte, war die zwischen ihm und seiner Frau nach und nach größer gewordene Unstimmigkeit. Sie forschte nach dem Grund: Wie kamen sie so rasch zu diesem Unbehagen, wo sie doch jung waren, auskömmlich leben konnten und keine andere Sorge hatten als ihr Glück? Zwanzigmal kam sie auf dieses Thema zurück, und sie hörte erst auf, ihren Cousin zu befragen, als sie ihn jedesmal verlegen sah: Er stammelte, erbleichte, wandte den Blick ab. Sie hatte sehr wohl diesen Ausdruck der Scham und der Angst wiedererkannt, der Angst vor dem Tode, deren Schauer er einst verbarg, so wie man ein geheimes Laster verschweigt; aber war es möglich, daß die Kälte des Nimmermehr sich zwischen sie gelegt hatte in das noch brennendheiße Bett ihrer Hochzeitsnacht? Mehrere Tage zweifelte sie; dann las sie, ohne daß er mehr gebeichtet hätte, in seinen Augen die Wahrheit, eines Abends, da er ohne Licht verstört aus seinem Zimmer herunterkam, als wäre er auf der Flucht vor Gespenstern.
In Paris hatte Lazare mitten in seinem Liebesfieber den Tod vergessen. Er flüchtete sich besinnungslos in die Arme Louises und war alsdann vor Erschöpfung so zerschlagen, daß er in einen tiefen Kinderschlaf fiel. Sie liebte ihn ebenfalls als Geliebte mit ihrem einzig für diesen Manneskult geschaffenen wollüstigen katzenhaften Gebaren, war sogleich unglücklich und verloren, wenn er eine Stunde lang aufhörte, sich um sie zu kümmern. Und die hitzige Befriedigung ihrer früheren Sehnsüchte, das Vergessen alles übrigen, wenn sie einander in den Armen lagen, hatte angedauert, solange sie glaubten, niemals auf den Grund dieser sinnlichen Freuden zu gelangen. Doch die Sättigung kam, er war verwundert, nicht über den Rausch der ersten Tage hinausgehen zu können, während sie in ihrem ausschließlichen Bedürfnis nach Zärtlichkeiten nichts weiter verlangte noch gab, ihm keinerlei Rückhalt, keinen Mut zum Leben schenkte.
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