Die Freude am Leben
Frau zu leben. War dies nicht auch das Mittel, den Gefahren der wiedererstehenden Leidenschaft zu entrinnen, unter der Lazare und sie gerade so sehr gelitten hatten? Louise allein war verwundert, als sie den Entschluß der Cousine erfuhr. Man brachte Gründe vor, gegen die sich nichts einwenden ließ, Doktor Cazenove erzählte, die Dame von SaintLô mache Pauline außergewöhnliche Angebote und diese könne nicht länger ablehnen, ihre Verwandten müßten sie vielmehr zwingen, eine Stellung anzunehmen, die ihr die Zukunft sichern würde. Chanteau selber stimmte mit Tränen in den Augen zu.
Es gab am Samstag ein letztes Abendessen mit dem Pfarrer und dem Doktor. Louise, die sehr leidend war, vermochte sich kaum an den Tisch zu schleppen. Das trübte die Mahlzeit vollends, trotz der Bemühungen Paulines, die jedem zulächelte, mit dem Selbstvorwurf, dieses Haus, in das sie seit Jahren so viel klingende Fröhlichkeit gebracht hatte, traurig zurückzulassen. Ihr Herz floß von Kummer über. Véronique bediente mit tragischer Miene. Aus übertriebener Vorsicht lehnte es Chanteau ab, zum Braten einen Schluck Burgunder zu trinken, zitternd bei dem Gedanken, daß er bald nicht mehr die Krankenwärterin haben würde, die allein mit ihrer Stimme die Schmerzen einschläferte. Lazare, fieberhaft erregt, stritt sich die ganze Zeit mit dem Arzt über eine neue wissenschaftliche Entdeckung.
Um elf Uhr war das Haus wieder in seine tiefe Stille gesunken. Louise und Chanteau schliefen schon, während das Hausmädchen die Küche in Ordnung brachte. Oben vor seinem ehemaligen Knabenzimmer, das Lazare immer noch bewohnte, hielt er wie jeden Abend Pauline einen Augenblick zurück.
»Leb wohl«, murmelte er.
»Aber nein, nicht leb wohl«, sagte sie und bemühte sich zu lachen. »Auf Wiedersehen, da ich doch erst am Montag reise.«
Sie sahen sich an, ihre Augen umflorten sich, und sie fielen einander in die Arme, ihre Lippen vereinten sich ungestüm in einem letzten Kuß.
Kapitel X
Als sich am nächsten Morgen zum ersten Frühstück alle an den Kaffeetisch setzten, wunderten sie sich, daß Louise nicht herunterkam. Das Hausmädchen wollte gerade hinaufgehen und an die Tür des Schlafzimmers klopfen, als sie endlich erschien. Sie war sehr blaß, und jeder Schritt fiel ihr schwer.
»Was hast du denn?« fragte Lazare unruhig.
»Mir ist schon seit dem frühen Morgen nicht gut«, erwiderte sie. »Ich habe heute nacht kaum ein Auge zugetan, ich glaube, ich habe jede Stunde schlagen hören.«
Pauline sagte vorwurfsvoll:
»Aber du hättest rufen sollen, wir hätten wenigstens für dich gesorgt.«
Louise war am Tisch angelangt und hatte sich mit einem Seufzer der Erleichterung hingesetzt.
»Oh«, begann sie wieder, »ihr könnt mir da nicht helfen! Ich weiß, was es ist, seit acht Monaten verlassen mich diese Schmerzen kaum noch.«
Ihre sehr beschwerliche Schwangerschaft hatte sie in der Tat an ständige Übelkeit und Leibschmerzen gewöhnt, die manchmal so heftig waren, daß sie ganze Tage lang in gekrümmter Haltung verharrte. An diesem Morgen war die Übelkeit verschwunden, aber sie fühlte sich wie von einem Gürtel eingeschnürt, der ihr schier den Leib zerquetschte.
»Man gewöhnt sich ans Leiden«, sagte Chanteau in belehrendem Tone.
»Ja, ich muß damit herumgehen«, schloß die junge Frau. »Deshalb bin ich heruntergekommen ... Ich kann nicht da oben auf einer Stelle bleiben.«
Sie nahm nur etwas Milchkaffee zu sich. Den ganzen Vormittag schleppte sie sich durch das Haus, setzte sich bald auf den einen, bald auf einen anderen Stuhl. Niemand wagte sie anzusprechen, denn sie brauste auf und schien noch mehr zu leiden, sowie man sich um sie kümmerte. Die Schmerzen hörten nicht auf. Kurz vor zwölf Uhr mittags jedoch schien der Anfall nachzulassen, sie konnte sich wieder zu Tisch setzen und einen Teller Suppe essen. Aber zwischen zwei und drei Uhr stellten sich entsetzliche Leibschmerzen ein; und jetzt hielt es sie nicht mehr, sie ging vom Eßzimmer in die Küche, stieg schwerfällig in ihr Zimmer hinauf, um sogleich wieder herunterzukommen.
Pauline packte oben ihren Koffer. Sie wollte am nächsten Morgen abreisen, es blieb ihr gerade noch Zeit, ihre Möbel zu durchsuchen und alles aufzuräumen. Jede Minute indessen beugte sie sich über das Geländer, gequält von diesen schmerzensschweren Schritten, welche die Dielen erschütterten. Gegen vier Uhr, als sie Louise noch unruhiger werden hörte, entschloß sie sich, bei
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