Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Freude am Leben

Die Freude am Leben

Titel: Die Freude am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
Vom Netzwerk:
erwiderte Pauline.
    Jetzt dehnte sich ihre tätige Nächstenliebe auf die ganze Gegend aus. Sie liebte aus natürlichem Gefühl die Elenden, fühlte sich nicht abgestoßen von ihrer Verkommenheit, trieb diese Neigung so weit, daß sie mit Stöcken den Hühnern die gebrochenen Pfoten wieder richtete und des Nachts Näpfe mit Suppe für die streunenden Katzen hinausstellte. Sie war beseelt von einer ständigen Sorge um die Leidenden, von dem Bedürfnis und der Freude, ihnen Erleichterung zu verschaffen. Und so kamen die Armen zu ihren ausgestreckten Händen, wie die räuberischen Spatzen zu den offenstehenden Fenstern der Scheunen kommen. Ganz Bonneville, diese Handvoll von Fischern, leidzerfressen unter der zermalmenden Wucht der Fluten, kam hinauf zu dem »Fräulein«, wie sie sie nannten. Aber sie schwärmte vor allem für die Kinder, die kleinen Jungen mit den durchlöcherten Hosen, durch die ihr rosiges Fleisch hervorsah, die kleinen bleichgesichtigen Mädchen, die sich nicht satt essen konnten und mit den Augen die Schnitten verschlangen, die sie unter sie verteilte. Und die schlauen Eltern spekulierten auf diese Liebe, schickten die Gören mit den schlimmsten Lumpen, mit dem kümmerlichsten Aussehen zu ihr, um noch mehr Mitleid zu erregen.
    »Du siehst«, begann sie lachend wieder, »am Sonnabend habe ich meinen Empfangstag wie eine Dame. Man kommt mich besuchen ... He, du, kleine Gonin, willst du wohl nicht diesen großen Dummkopf Houtelard kneifen! Ich werde böse, wenn ihr nicht artig seid ... Wir wollen versuchen, der Reihe nach vorzugehen.«
    Jetzt begann die Verteilung. Sie hielt sie im Zaum, stupste sie mit Mütterlichkeit zurecht. Der erste, den sie aufrief, war der Sohn von Houtelard, ein zehnjähriger Junge mit gelber Hautfarbe und düsterem, erdfahlem Aussehen. Er zeigte sein Bein, er hatte am Knie eine lange Schramme, und sein Vater schickte ihn zu dem Fräulein, damit sie ihm etwas darauf tue. Sie versorgte die ganze Gegend mit Arnika und Beruhigungstropfen. In ihrer Leidenschaft zu heilen hatte sie sich nach und nach eine komplette Apotheke angeschafft, auf die sie stolz war. Als sie das Kind verbunden hatte, senkte sie die Stimme und unterrichtete Louise über Einzelheiten.
    »Meine Liebe, reiche Leute, diese Houtelards, die einzigen reichen Fischer von Bonneville. Du weißt doch, das große Boot gehört ihnen ... Bloß, entsetzlich geizig, führen ein Hundeleben in unaussprechlichem Schmutz. Und das schlimmste ist, daß der Vater, nachdem er seine Frau zu Tode geprügelt, seine Magd geheiratet hat, ein entsetzliches Weib, das noch hartherziger ist als er. Jetzt schlagen sie beide dieses arme Wesen halbtot.« Und ohne zu bemerken, daß ihre Freundin unruhig wurde und ihr das alles zuwider war, hob sie die Stimme. »Nun zu dir, Kleine ... Hast du auch die Flasche Chinawein ausgetrunken?«
    Sie hatte die Tochter von Prouane, dem Kirchendiener, angesprochen. Man hätte sie für eine heilige Therese als Kind halten können, weil sie mit Skrofeln bedeckt und von äußerster Magerkeit war und große hervorstehende Augen hatte, in denen schon die Hysterie flammte. Sie war elf Jahre alt und wirkte kaum wie sieben.
    »Ja, Mademoiselle Pauline«, stotterte sie, »ich habe getrunken.«
    »Lügnerin!« rief der Pfarrer, ohne das Damebrett aus den Augen zu lassen. »Dein Vater roch gestern abend wieder nach Wein.«
    Daraufhin wurde Pauline ärgerlich. Die Prouanes hatten kein Boot, sammelten Krabben und Muscheln, lebten vom Garnelenfang. Doch dank der Kirchendienerstelle hätten sie noch alle Tage Brot essen können, wäre nicht ihre Trunksucht gewesen. Man fand den Vater und die Mutter quer über der Türschwelle liegen, zu Boden gestreckt durch den Calvados, den schrecklichen normannischen Branntwein, während die Kleine über sie hinwegstieg, um die letzten Tropfen aus ihren Gläsern herauszuschlecken. Wenn Prouane keinen Calvados hatte, trank er den Chinawein seiner Tochter.
    »Und ich mache mir die Mühe, Chinawein für dich zu bereiten!« sagte Pauline. »Hör zu, ich behalte die Flasche, du kommst jeden Abend um fünf Uhr zu mir und trinkst ihn hier ... Und ich werde dir ein wenig gehacktes rohes Fleisch geben, der Doktor hat es verordnet.«
    Dann kam die Reihe an einen großen Jungen von zwölf Jahren, den Sohn von Cuche, einen ausgemergelten, mageren, frühzeitig lasterhaften Bengel. Ihm gab sie ein Brot, einen Topf Rindfleischsuppe und ein Fünffrancsstück. Das war noch eine häßliche Geschichte.

Weitere Kostenlose Bücher