Die Friesenrose
durch das Wohnzimmer, in dem sie saßen. Dies war kein Quartier, dies war ihr Zuhause! Und sie liebte jeden Winkel darin. Bis unter die dicken Deckenbalken reichte der mit Delfter Fliesen gekachelte Kamin, an dessen Haken ein blanker Teekessel hing. Die handgefertigten Möbel und das Teegeschirr auf dem schweren Eichentisch vermittelten Behaglichkeit. In der kleinen Vitrine standen die Pfeifen ihres Vaters, und darüber tickte die Meerweibchenuhr. Seewiefkes nannten die Ostfriesen die seitlichen Figuren, mit denen das Gehäuse der Uhr geschmückt war, und Inken vermeinte noch immer die Stimme ihres Vaters zu hören, wie er ihr als kleinem Mädchen Pfeife rauchend von den lockenden Meerweibchen erzählte und die Geschichte immer mit den Worten geschlossen hatte: „Die Meerweibchen sind listig und schlau. Man sieht sie von Weitem, doch fangen kann man sie nicht. Weißt du, so ist es auch mit der Zeit, sie enteilt einfach. Du möchtest sie festhalten, doch es wird dir niemals gelingen. Was heute ist, wird morgen schon Vergangenheit sein, und alles, von dem wir glauben, dass es ewig währt, ist ständigem Wandel unterworfen.“
Inken zwang sich, ihre Augen von der Meerweibchenuhr zu nehmen. Ja, alles war plötzlich anders! Wehmütig betrachtete sie den kunstvoll geschnitzten Kistenschrank an der Wand, in dem ihre Aussteuer verstaut war. Unverrückbar war er ihr als Kind immer vorgekommen. Aber unverrückbar war Inken bis vor Kurzem auch ihr ganzes Leben erschienen. Und nun würde dieses Haus in französische Hände fallen.
„Das Haus kann sich nicht dagegen wehren“, ging es ihr durch den Sinn. „Doch ich kann es. Es wird den Männernnicht gelingen, mich einfach wegzuschleppen wie ein gefangenes Tier.“
Ihre Hände zitterten, während die Gedanken in ihrem Kopf auf der Suche nach einem Ausweg nur so dahinrasten. Es gab nur eine Lösung: Und dazu brauchte sie die Hilfe des Holländers. Sie war sich sicher, dass er insgeheim auf ihrer Seite war, sich ihrer Sache aus Vernunftsgründen jedoch versperrte.
Das Aufreißen der Tür riss Inken aus ihren Gedanken. Ein Soldat betrat das Zimmer, bellte einen kurzen Befehl und verschwand dann wieder. Der Holländer seufzte. „Sie haben keine Engländer entdeckt, dafür aber andere Schätze im Keller Ihres Vaters. Ich glaube, das wird eine lange Nacht werden. Ich bin zu Ihrer Bewachung eingeteilt.“
Je mehr die Franzosen tranken, desto lauter wurden sie. Zotige Sprüche drangen an Inkens Ohr, und mehr als einmal runzelte der Holländer missbilligend die Stirn. Schweigend saßen sie einander gegenüber. Als plötzlich ungläubiges Gelächter laut wurde und sich jemand auf die Schenkel schlug, nickte Inken in Richtung der Tür.
„Worüber amüsieren sich die Soldaten so?“
Der Holländer schaute zu Boden, und Inken hörte Betroffenheit aus seiner Stimme heraus, als er antwortete. „Gestern wurden drei Insulaner öffentlich erschossen, weil sie beim Schmuggeln erwischt worden sind. In ihren Booten befanden sich mehrere Säcke mit Tee. Die Franzosen können nicht begreifen, warum man sich wegen solch einer Schmuggelware in Gefahr begibt.“
Inken beugte sich zu dem Soldaten vor und blickte ihm ruhig in die Augen. „Aber Sie können es begreifen, nicht wahr? Weil Sie Holländer sind und kein Franzose. Ihr liebt den Tee, genau wie wir. Der Tee ist unser Lebenselixier. Ertränkt unsere Wurzeln, und für ihn riskieren wir fast alles – ist es nicht so?“
Zögerlich nickte der Soldat. „Die Franzosen werden uns nie verstehen!“ Niedergeschlagen schloss er die Augen.
Inken sprang auf und ergriff seine Hand. „Sie haben uns gesagt. Holländer, ziehen Sie die gottverdammte Uniform aus und helfen Sie mir. Ich will nicht nach Frankreich! Ich will hierbleiben und sehen, wie die Franzmänner geschlagen werden.“
Der Soldat schüttelte müde den Kopf. „Ich kann die Seiten nicht mehr wechseln. Wissen Sie, was mit Deserteuren und deren Angehörigen geschieht?“
Inken nickte resigniert. „Und ich bin eine Fremde für Sie.“
Der Soldat musterte das Mädchen nachdenklich. „Sie sind eine Fremde und mir doch viel näher als die Franzosen. Es wäre wirklich eine Schande, Sie gefangen nehmen zu lassen.“ Er seufzte tief. „Mein Gott, was soll ich nur tun?“
„Bitte helfen Sie mir.“ Inken trat auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Lange war es still, und Inken beobachtete, wie der Holländer mit sich rang. Trotz der Kühle des Abends traten
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