Und das ewige Licht leuchte ihr - Granger, A: Und das ewige Licht leuchte ihr - Rattling the bones
KAPITEL 1
Ich wurde mehr oder weniger von meiner verstorbenen Großmutter aufgezogen, Erszebet Varady. Meine Mutter ging eines Tages aus dem Haus, als ich sieben Jahre alt war, und blieb für vierzehn Jahre verschwunden. Großmutter war das, was man einen prägenden Einfluss nennt. Ich lernte, guten Kaffee zu mögen und scharfes Gulasch, mich niemals auf einer öffentlichen Toilette auf den Sitz zu setzen und mich vor Personen in Uniform zu hüten, gleich welchen Geschlechts. Großmutter Varady wusste wie einer der alten Schamanen Vorzeichen zu deuten. »Manchmal, wenn sich Unheil zusammenbraut, bleibt einem nichts anderes übrig, als wegzulaufen«, pflegte sie philosophisch zu sagen. Es wäre eine gute Sache gewesen, hätte ich ihren Instinkt in dieser Hinsicht geerbt, doch schlimme Situationen hatten auf mich schon immer eine verhängnisvolle Anziehungskraft. Je schwieriger die Umstände, desto größer mein Verlangen, mich einzumischen. Es ergibt nicht den geringsten Sinn. Es ist, was Dramatiker einen fatalen Fehler nennen.
Großmutter hatte lebhafte eigene Erfahrungen mit dem Weglaufen vor schlimmen Situationen – sie war in der Folge der Aufstände von 1956 mit nichts als ihrem Baby (meinem Vater) im Arm aus Ungarn geflüchtet. Sie hatte auch meinen Großvater dabei, doch er erholte sich unpassenderweise gerade von einer schweren Grippe und war keine große Hilfe. Immer wieder gaben seine Knie in ungünstigen Augenblicken nach. Meine Großmutter äußerte oft die Meinung, dass keine Situation so schwierig sei, dass ein männlicher Varady sie nicht noch verschlimmern könnte.
Trotz der Tatsache, dass mein Großvater selbst Arzt gewesen war, hatte er sich keiner besonders robusten Gesundheit erfreut. Er starb bereits vor meiner Geburt. Ich besitze ein Foto von ihm, aufgenommen, als er vielleicht dreiundzwanzig war, so alt, wie ich heute selbst bin. Es ist ein professionelles Porträt, aufgenommen in Budapest in einem Studio, dessen Einrichtung sich wahrscheinlich seit den Tagen von Franz Josef nicht geändert hatte. Mein Großvater posiert mit einem Arm auf einem griechischen Säulenstumpf und den anderen schneidig in die Hüfte gestemmt. Er blickt schräg in die Kamera und stellt ein leichtes Grinsen zur Schau, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er lächeln soll oder nicht. Oder vielleicht lag es auch nur daran, dass er zufrieden war mit seinem Aussehen. Er trägt ein einreihiges Sakko, dessen mittlerer Knopf geschlossen ist. In der Brusttasche steckt ein kunstvoll gefaltetes Taschentuch, und am gegenüberliegenden Revers steckt eine Nelke. Sein Hemdkragen sieht so eng aus, als würde er ihm die Luft abschneiden, und unter dem Kragen trägt er eine gestreifte Fliege. Außerdem hat er einen gepflegten kleinen Schnurrbart, und aus irgendeinem Grund trägt er einen Hut.
Dieses Porträt thronte während meiner gesamten Kindheit stolz auf unserem Kaminsims. Ich bemerkte recht früh, dass mein Vater (der vor ungefähr zehn Jahren starb) ihm sehr ähnlich sah. Das heißt, abgesehen von der Nelke und dem Hut. Mein Vater war ebenfalls keine große Hilfe in einem Notfall. Nachdem meine Mutter uns hatte sitzen lassen, blieb er zwar körperlich anwesend, doch geistig war er mit ihr weggegangen. Im Verlauf einer Serie von Gelegenheitsarbeiten, die er ausnahmslos mit großer Begeisterung angefangen hatte, nur um kurze Zeit später resigniert wieder aufzugeben, hing er einfach zu Hause herum. Er war ein netter Mann, warmherzig und freundlich, doch in Wirklichkeit keine große Hilfe. Es war schon immer Sache der Varady-Frauen gewesen, sich um alles zu kümmern und Probleme zu lösen. Ich frage mich manchmal, ob es die Erkenntnis war, dass sie die gesamte Last ihrer Ehe würde tragen müssen, die dazu geführt hat, dass meine Mutter aufgab, auch wenn ich nicht die leiseste Ahnung habe, warum sie letztendlich ging. Bei den wenigen Treffen, die wir viele Jahre später hatten, sprach sie nicht darüber, und ich fragte nicht. Sie ist inzwischen ebenfalls tot, genau wie Großmutter. All diese Fragen hängen unbeantwortet in der Luft … mitgenommen in die Gräber, wie die Viktorianer zu sagen pflegten. Einige Menschen versuchen, alte Geheimnisse aufzudecken. Sie klappern mit den Knochen und hoffen, dass irgendeine Erkenntnis zum Vorschein kommt. Ich habe so etwas nie getan.
Allerdings habe ich mich – und vielleicht ist das der Grund, obwohl es immer meine Absicht war und bis heute geblieben ist, eines Tages meinen
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