Die Friesenrose
Prolog
Kanton, China, 1794
Schon jetzt lag der aromatische Duft des Tees wie eine Wolke über dem Hafen von Kanton. Sumi schloss die Augen und nahm den Wohlgeruch tief in sich auf. Traurigkeit überfiel sie und für einen Augenblick auch Zweifel an ihrem Tun. Doch dann legte sich der zarte Duft des Getränkes wie Balsam auf ihren Abschiedsschmerz. Der Tee würde mit ihr gehen in die fremde Welt. Das musste als Trost genügen.
Sumis Augen wanderten zu den Schiffen am Horizont. Die Händler waren gekommen. Sie wollten den Chiai-Catai , den Tee der Chinesen, kaufen, und Kanton war der einzige Hafen, zu dem ihnen Zugang gewährt wurde. Dschunken umringten die Fahrzeuge, um die Kaufleute aufzunehmen. Mit Tee zu handeln, dazu war man bereit. Doch darüber hinaus glich der Versuch der Fremden, eigene Waren nach China hineinzubekommen und andere herauszubringen, dem Griff nach den Sternen.
Sumi wartete auf den Mann, der es gewagt hatte, seine Hand gen Himmel zu strecken. Ungeduldig blickte sie auf die näher kommenden Boote, mit denen die Händler in den Hafen gebracht wurden. Es waren größtenteils Holländer, aber auch Briten, Portugiesen und Spanier, die, wie die Chinesen, nicht mehr ohne Tee leben wollten. Genauso wie sie nicht mehr ohne den Mann leben wollte, der es geschaffthatte, ihre Liebe zu gewinnen. Sumi seufzte tief. Denn diese Liebe hieß sie heute Abschied nehmen!
Sumi beugte sich über eine Schale mit Wasser und betrachtete lange ihr Spiegelbild. Die dunklen Mandelaugen standen übergroß in ihrem kleinen, herzförmigen Gesicht. Ihre Haut hatte die Farbe von Elfenbein, und um den Mund mit dem traurigen Lächeln lag ein fragender Ausdruck. Würde er sie immer noch schön finden? Ihre Hände fühlten nach den Nadeln und Kämmen, die ihr schwarzes Haar hielten. Sie verbannte die Zweifel, schloss ihre Augen und lauschte den Gesprächen um sie herum. Wie bunte Schmetterlinge entflatterten die Wörter den Lippen der Chinesinnen. Wie sehr sie diesen sanften Singsang vermissen würde!
Dann, plötzlich, wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, verstummten die Frauen. Die Händler stiegen aus den Booten. Sumis Blick glitt suchend über jedes Gesicht, bis sie das seine gefunden hatte! Seine Augen strahlten und sein Mund lachte. Ihre Unsicherheit verschwand. Sie neigte sanft lächelnd den Kopf in seine Richtung, und wie abgesprochen formten ihre Hände das Zeichen. Sumis Bündel war gepackt, sie selbst bereit.
Trotz aller Aufregung bemühte sie sich, ruhig und unbeteiligt zu wirken. So, wie es seit jeher von den chinesischen Frauen erwartet wurde. Es fiel ihr schwer, da sie seine Augen auf sich ruhen spürte. Er verfolgte jede ihrer Bewegungen. Sumi hörte ihn ungeduldig seufzen und lächelte in sich hinein. Denn bevor ihm der Stern in den Schoß fiel und sie ihrer Liebe folgte, musste noch über den Tee verhandelt werden.
Und vor dem Teetrinken kam das Mahl. Die Tische bogen sich unter erlesenen Köstlichkeiten. Speisen in Schüsseln vongetriebenem Silber sollten die Gaumen der Käufer erfreuen und für den Teegenuss bereit machen.
Wie unsichtbare Geister trugen Sumi und die anderen Frauen Reiswein auf und legten den Männern vor. Die Co-Hongs , die chinesischen Kaufleute, die den Teehandel in der Hand hatten, würdigten sie keines Blickes, doch die ausländischen Gäste konnten kaum die Augen von ihnen lassen. Sumi spürte die Verzauberung der Männer. Sie waren wie betört von den fremdartigen Speisen, den Frauen in bunten Gewändern und vom Tee.
Die getrockneten Blätter wurden nun vor ihren Augen mit heißem Wasser übergossen. Und während das Kraut ruhte, überrollte der Duft des Tees die Händler wie eine Woge und ließ sie erschauern. Die Co-Hongs gaben das Zeichen, und die Frauen seihten den Tee durch blütenweiße Tücher. Sie schenkten ihn in kleine Schalen und gossen warme Milch darunter. Etwas Zucker und eine Winzigkeit an Salz vervollständigten das Getränk.
Mit großen Augen sahen die Fremden zu. Erst als die Co- Hongs die Teesorte nannten und schlürfend tranken, griffen auch die ausländischen Händler nach den Schalen. Begeisterte Rufe wurden laut, und die Augen der Co-Hongs blitzten. Die Reaktion der Fremden versprach die Aussicht auf ein gutes Geschäft, denn Tee wurde mit Silber aufgewogen. Sie würden heute viele Münzen gewinnen. Dass sie im Gegenzug dafür einen Stern verlieren sollten, ahnten diese Männer nicht.
Über den Rand der Tasse hinweg trafen sich die Blicke von Sumi und dem
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