Die Frucht des Bösen
Andrew hat nicht gelogen, als er Danielle verraten hat, dass mein Haus eine Festung ist.
Die Telefonleitung ist tot, der Strom ausgeschaltet. Ich weiß nicht, wo mein Handy geblieben ist. Mein Laptop müsste noch im Wohnzimmer sein. Wir sind von der Umwelt abgeschnitten, und laut Danielle hat Andrew eine Waffe.
Ich zweifle nicht daran, dass er von ihr Gebrauch machen wird, und kann nicht zulassen, dass er sich Michael als Ersten vornimmt. Ich brauche ihn. Mittlerweile mag er zwar wie ein verweichlichter Snob aussehen, aber er ist unter anderen Verhältnissen aufgewachsen. Er kann einstecken und austeilen. Gegen Andrew könnte er etwas ausrichten, jedenfalls mehr als zwei Frauen und ein achtjähriger Junge.
Danielle läuft auf Evans Zimmer zu. Ich husche ins Treppenhaus, die Schere wie eine Waffe in der Faust.
Andrew ist nicht mehr zu hören. Die Stille zehrt an meinen Nerven. Was treibt er gerade? Wo hält er sich versteckt? Was hat er als Nächstes vor?
Meine Hände zittern. Ich komme mir vor wie ein Kaninchen, über dem ein Raubvogel kreist, und würde mich am liebsten verkriechen.
Aber das werde ich nicht tun. Es geht nicht nur um mich.
Ich kenne jeden Winkel im Haus und habe über Jahre gelernt, mitten in der Nacht und im Dunkeln über die Treppe zu schleichen, um Evan nicht aufzuwecken. Ich kenne jede quietschende Stufe, jedes knarrende Bodenbrett. Dumm nur, dass meine Stichwunde Probleme macht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie wieder blutet, und unter dem Schmerz an der Oberfläche macht sich ein brennendes Klopfen bemerkbar. Ich beiße die Zähne zusammen, denke an meine Familie und gehe nach unten.
Auf der letzten Stufe angelangt, halte ich inne und schaue mich um. Erstes Morgenlicht fällt durch die Fenster neben der Tür. Ich habe Einblick in jeden Winkel der Eingangsdiele, auf den Ficus und den Türbogen, der zur Küche führt. Andrew ist nirgends zu sehen. Mit pochendem Herzen schleiche ich an der Wand entlang.
Aus dem Wohnzimmer ist ein Ächzen zu hören.
Michael.
Mein Impuls ist es, zu ihm zu eilen, doch ich zwinge mich zu kleinen, vorsichtigen Schritten. Ich lausche. Die Stille macht mir Angst.
Dann höre ich ein Rascheln, vielleicht aus der Waschküche im Keller, vielleicht aus dem Arbeitszimmer. Ich husche ins Wohnzimmer und gehe hinter dem Flachbildschirm in Deckung. Von hier aus kann ich das Sofa sehen. Michael liegt davor am Boden. Hände und Füße sind gefesselt. Sein Kopf zuckt wie unter dem Eindruck eines schrecklichen Traums.
Ich bin versucht, ihm den Rücken zu kehren. Warum sollte ich ihn wecken? Bewusstlos ist er besser dran, dann muss er nicht um seinen Sohn und seine Frau, nicht um sein eigenes Leben bangen.
Ein Lichtschein im Flur. Der Strahl einer Taschenlampe wandert auf das Wohnzimmer zu, nimmt Kurs auf mich. Ich springe auf und eile hinter den Vorhang, wo sich Evan immer gern versteckt.
«Danny boy»,
singt Andrew und betritt das Wohnzimmer.
«Oh Danny boy.»
Er wirft einen Blick auf Michael, scheint mit dem, was er sieht, zufrieden zu sein, und kehrt in den Flur zurück. «Die Zeit ist abgelaufen», ruft er. «Weißt du, wo die Pistole ist, Danielle? Ich weiß es.»
Andrew geht die Treppe hinauf. Er hält etwas in der rechten Hand. Ein Messer, wie ich sehe. Ein großes Fleischermesser.
Damit nähert er sich meinem Kind.
Ich springe durchs Wohnzimmer, knie mich neben meinen Mann und schneide die Kabelbinder auf. Er ächzt. Ich küsse ihn. Der törichte Einfall einer törichten Frau, die nicht loslassen kann. Ich schlage ihm ins Gesicht, fest.
«Verdammt, Michael, wach auf! Unser Sohn braucht dich.»
[zur Inhaltsübersicht]
44 . Kapitel
«Victoria ist nicht da», berichtete Greg zehn Minuten später. Er war außer Atem, und Alex, der drei Schritte hinter ihm eintraf, keuchte noch mehr.
«Die Schwester meint, Victoria müsse ihr Zimmer kurz nach Mitternacht verlassen haben», setzte Alex nach. «Seitdem ist sie nicht mehr gesehen worden.»
«Eine Frau, die niedergestochen wurde, verschwindet aus ihrem Zimmer, und niemand schlägt Alarm?»
«Die Schwester fand den Krankenhauskittel auf einem Stuhl und stellte fest, dass die frische Wäsche, die Victorias Exmann gebracht hat, nicht mehr im Schrank war. Sie dachte, Victoria sei gegen den Rat der Ärzte nach Hause gegangen. Man hat ihren Ex telefonisch zu erreichen versucht. Vergeblich.»
«Ihr Ex war hier und hat ihr Wäsche gebracht?»
Alex nickte. «Ja. Er hat auch mit den Ärzten gesprochen.»
D. D.
Weitere Kostenlose Bücher