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Die Frucht des Bösen

Die Frucht des Bösen

Titel: Die Frucht des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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plötzlich fiel es mir wieder ein. Meine Mutter hatte ihn gerufen. In meiner fast verschütteten Erinnerung sah ich sie mit dem Telefonhörer am Ohr und glaubte ihre Stimme hören zu können.
    «Du musst kommen, Wayne. Ich halte es nicht länger aus. Er ist betrunken und außer Kontrolle. Danielle ist vorhin zu mir ins Schlafzimmer gekommen. Du ahnst nicht, was sie mir gesagt hat. Bitte komm, Wayne. Ich liebe dich. Bitte.»
    Wie viel Zeit blieb mir noch? Sieben, acht Minuten?
    Ich kehrte zur Schublade zurück, tastete nach der Schere und pikste mir dabei die Kuppe des Mittelfingers auf. Der Schmerz brachte mich zur Besinnung und fühlte sich fast gut an.
    Ich schlich zurück ans Bett.
    «Was brüllt der da?», flüsterte Victoria.
    «Er spielt auf die Nacht an, in der mein Vater meine Mutter und meine Geschwister getötet hat. Andrews Vater war der Sheriff, der zum Tatort gerufen wurde.»
    «Ihr Vater hat Frau und Kinder umgebracht und nur Sie am Leben gelassen?»
    «Ja, das ist die Geschichte meines Lebens», antwortete ich. Doch Andrews Versuche, mich eines Besseren zu belehren, schienen bereits zu fruchten, denn ich fragte mich, ob dies tatsächlich meine Geschichte war.
    Victoria wälzte sich auf den Bauch und hob mir die gefesselten Hände entgegen. Ich zwängte beide Daumen durch die Scherenaugen.
    «Andrew hat hier irgendwo eine Pistole versteckt», sagte ich mit dem Rücken zu ihr und versuchte, ihre Handgelenke zu ertasten. «Wenn ich sie finde, habe ich gewonnen, wenn nicht, wird er uns töten. Ich soll die Seele meines Vaters in irgendeiner spirituellen Zwischenwelt aufsuchen und ihn fragen, wo die Waffe steckt. Außerdem will er von mir, dass ich die Seele von Sheriff Wayne rette. Dummerweise glaube ich nicht an spirituelle Zwischenwelten und bin mir vielmehr ziemlich sicher, dass dieser Typ einen schweren Dachschaden hat.»
    Nachdem ich ein paarmal danebengestochen hatte, erwischte ich endlich den Kabelbinder. Meine Finger waren blutverschmiert und zitterten, doch dann gelang es mir tatsächlich, die Schere über das Plastikband zu führen. Ich drückte die Hebel so fest zusammen, wie ich nur konnte, und das Plastikband sprang tatsächlich auf. Victoria war frei.
    Wie viel Zeit noch? Sechs Minuten?
    «Oh Danny girl. My pretty, pretty Danny girl.»
Andrew grölte wieder durchs Megaphon.
    Seine Stimme klang geradezu ausgelassen. So hatte mein Vater nicht gesungen.
    Als er im Schummerlicht des Flurs gestanden, die Pistole gehoben und auf mich gerichtet hatte, auf
mich
 …
    «Oh Danny girl. My pretty, pretty Danny girl!»
    «Runter mit der Waffe, Joe. Wayne. Hör auf damit. Nicht so. Das ist nicht, was ich will.»
    Mein Schädel brummte. Ich hatte wieder dieses Gefühl, als stünde meine Familie neben mir, dass ich sie sehen und vielleicht sogar berühren könnte, wenn ich mich nur intensiv genug konzentrieren würde.
    Ich ließ die Schere aufs Bett fallen. Victoria richtete sich auf, befreite zuerst meine Hände, dann ihre Füße.
    Wir standen nebeneinander, zwei Frauen im dunklen Schlafzimmer, mit einer Schere bewaffnet.
    «Evan», sagte sie.
    Ich hörte ihn. Er brabbelte weiter unten im Flur immer noch vor sich hin. Ein Blick auf den Wecker neben dem Bett verriet mir, dass mir nur noch ungefähr drei Minuten blieben.
    «Evan kann uns nicht helfen», sagte ich.
    «Nein», bestätigte Victoria. Dann, nach einer kurzen Pause: «Mir nicht, aber ich glaube, er kann Ihnen helfen.»

[zur Inhaltsübersicht]
    43 . Kapitel
    Victoria
     
    Ich erinnere mich an eine Nachrichtenmeldung, die Michael und ich einmal im Fernsehen gesehen hatten: Zwei Männer, mit Skimützen maskiert, waren in ein vornehmes Bostoner Stadthaus eingebrochen und mit einer Juwelenschatulle geflohen, nachdem sie sämtliche Bewohner getötet hatten. Evan war damals neun Monate alt, und ich weiß noch, dass mich als junge Mutter das kalte Grauen überkam.
    Nach der Meldung – es wurde Werbung gezeigt – wandte sich Michael an mich und sagte: «Falls so etwas hier jemals passieren sollte, schnappst du dir Evan und verschwindest. Du machst dir um mich keine Sorgen und kümmerst dich ausschließlich um unseren Jungen.»
    Dieser Albtraum ist also nun Wirklichkeit geworden. Ich werde in meinem eigenen Haus von einem Psychopathen gefangen gehalten. Eine Frau, die ich soeben das erste Mal gesehen habe, kümmert sich um meinen Sohn, während ich mich auf die Suche nach Michael mache.
    Die Zeit läuft ab, uns bleiben nur wenige Möglichkeiten.

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