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Die Frucht des Bösen

Die Frucht des Bösen

Titel: Die Frucht des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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dich umarmen. Sie werden dir helfen, wenn du sie darum bittest.»
    «Würdest du das für mich tun? Könntest du die Engel rufen und sie bitten, uns zu helfen?»
    «Pistolen sind böse», sagte Evan.
    «So wie Andrew. Hilf uns, Evan. Deine Mommy und dein Daddy brauchen dich.»
    Evan hob das Kinn und musterte mich mit ernster Miene. «Ich helfe dir.»
     
    Ich versteckte Evan, gefesselt wie er war, im Kleiderschrank unter einem Berg von Kissen und Anziehsachen. Die zehn Minuten waren wohl inzwischen um. Gleich würde Andrew kommen. Mit oder ohne Pistole. Ich suchte in Evans Zimmer nach einem Gegenstand, der sich als Waffe benutzen ließ. Vielleicht eine Lampe, ein Radiowecker oder ein Bilderrahmen. Aber da war nichts. Victoria hatte gründliche Vorkehrungen getroffen, um die Gefahren, die von ihrem gewalttätigen Kind ausgingen, möglichst gering zu halten.
    Denk nach, denk nach, denk nach.
    Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich hörte ein dumpfes Rauschen in den Ohren, was wohl auf meine Überreizung zurückzuführen war. Evan murmelte leise vor sich hin – «einatmen, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben … ausatmen, eins, zwei, drei, vier, fünf …» –, und ich stand unbewaffnet inmitten seines düsteren Schlafzimmers.
    Dann hörte ich noch etwas, das Knarren einer Bodendiele.
    Andrew kam die Treppe herauf.
    Mein Vater, singend, während er sich meinem Zimmer näherte. Mein Vater mit Blutspritzern im Gesicht, dem Blut meiner Mutter, meiner Schwester, meines Bruders.
    Diesmal aber würde ich mich nicht unter der Bettdecke verkriechen.
    Ich wollte kämpfen.
    Ich
musste
kämpfen.
    Wenn ich bloß diese verfluchte Pistole hätte …
    Und mit dem nächsten Herzschlag wusste ich plötzlich, was zu tun war. Ich brauchte Evan nicht. Nicht nötig, dass ich mich auf eine spirituelle Reise begab. Es drehte sich ja doch alles um meinen Vater, nicht wahr?
    Ich wusste jetzt, wo die Pistole versteckt war.
    Ich hatte meinen Vater in die Kanalisation verbannt, und dieses Miststück versuchte seitdem, daraus hervorzukriechen.
     
    Ich erwartete Andrew draußen im Flur, hatte mich im Schneidersitz auf den Boden gesetzt und lauschte mit geschlossenen Augen dem Gemurmel des Jungen im Zimmer nebenan. Ein leichter Lufthauch streifte meine Wangen. Kalt und warm. Hell und dunkel.
    Mir war irgendwie seltsam zumute. Ich spürte ein seltsames Kribbeln in mir, eine ungeahnte, wie von Engeln verliehene Kraft. Es waren, wie mir bewusst wurde, die Erinnerungen, die mich stark machten. Endlich hatte ich mich ihnen geöffnet. Ich gestattete mir zu wissen, was ich längst wusste. Im Geiste kehrte ich in jene Nacht von damals zurück, nur waren meine Mutter und meine Geschwister diesmal bei mir. Wir waren vereint, vier gegen einen.
    Und die Bilder, die vor mir auftauchten, waren grausam und schmerzlich zugleich.
    «Du hast die Pistole nicht gefunden», sagte Andrew. «Du bist gescheitert.»
    Er trat einen Schritt auf mich zu. Ich öffnete die Augen.
    «Sheriff Wayne hat mich gerettet», erklärte ich mit fester Stimme. «Mein Vater hat sich nicht selbst umgebracht. Er wurde von Sheriff Wayne erschossen.»
    «Du … du hast mit ihm gesprochen?» Andrew klang verwirrt. Er stand sechs Schritte von mir entfernt und hielt ein langes Messer in der Hand, das er ans Hosenbein presste.
    «Meine Mutter hat ihn geliebt. Sind Sie ihr auch in der Zwischenwelt begegnet? Haben Sie ihr Fragen gestellt? Sheriff Wayne war ein guter Mann. Sie verehrte ihn.»
    Andrew schien in helle Aufregung zu geraten, was meinen Verdacht bestätigte.
    «Sie rief ihn an, nachdem ich mit ihr gesprochen hatte und mein Vater nach Hause gekommen war. Sie wollte ihren Mann vor die Tür setzen. Der aber weigerte sich zu gehen. Also rief sie Ihren Vater an, ihren Liebhaber, Sheriff Wayne, damit er ihr den Rücken stärkte.»
    «Er hätte seine Familie nicht im Stich lassen dürfen», blaffte Andrew.
    «Auch ein guter Mann hat Schwächen und gerät in Versuchung», entgegnete ich. «Auch ein guter Mann wünscht sich manchmal, was er sich nicht wünschen sollte. Wayne kam zu uns als Mann, nicht als Polizist. Er hoffte, meinen Vater zur Vernunft bringen und ihm klarmachen zu können, dass es besser wäre, wenn er ginge. Ein ernstes Wort unter Männern, die sich als Kumpel verstanden. Und jeder wusste, dass mein Vater ein erstklassiger Kumpel war.»
    Andrew wurde immer nervöser und ließ das Messer auf den Schenkel klatschen.
    «Aber es kam anders als geplant. Mein Vater

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