Die Früchte der Unsterblichkeit
ins Ohr geflüstert hatte, während Doolittle mir das Silber aus dem Körper schnitt, zu verdrängen. Manche Erinnerungen waren einfach zu riskant.
Als ich wieder rauskam, sauber und angezogen und hauptsächlich nach Kokosnuss und nur noch ganz wenig nach toter Katze riechend, stand Raphael vor dem Regal mit den Fotos. Die junge kleine Andrea neben einer zierlichen Blondine, meiner Mutter.
»Bist du da ungefähr acht?«, schätzte er.
»Elf. Ich war immer klein für mein Alter. Schwächer als die anderen.« Sanft berührte ich das Foto. »In der Wildnis können Hyänenjungen sofort sehen und haben scharfe Zähne. Sie kämpfen von Geburt an und das stärkste Weibchen versucht, ihre Schwestern zu töten. Manchmal hören die schwächeren Weibchen vor Angst auf zu säugen und verhungern. Die erwachsenen Tiere versuchen das zu verhindern, aber die Hyänenjungen graben Tunnel, die zu eng für die ausgewachsenen Hyänen sind, und tragen ihre Kämpfe dann dort aus.«
»Boudas graben keine Tunnel«, sagte Raphael leise.
»Du hast recht. Sie brauchen ihre Aggressionen auch nicht vor ihren Eltern zu verstecken.«
Sie prügeln dich in aller Öffentlichkeit zu Tode. Direkt vor den Augen deiner Mutter, denn die kann dich eh nicht beschützen.
Ich griff nach dem Rahmen und zog das kleine Foto dahinter hervor. Der Mann auf dem Bild stand seltsam gebeugt. Er war nackt und seine Haut war schwach getüpfelt. Die Arme waren viel zu muskulös, die Kiefer viel zu kräftig und die Haut um die Nase dunkel. Seine runden Augen waren ganz schwarz.
Das Lyc-V war ein Virus, der Menschen wie Tiere gleichermaßen befiel. In sehr seltenen Fällen kam dabei ein Tierwer heraus, ein Tier, das die Gestalt wandeln und zum Menschen werden konnte. Die meisten überlebten diese Verwandlung nicht, und wenn doch, so waren sie meist geistig schwer behindert. Dumm und stumm, wie sie waren, wurden sie allseits verachtet. Menschliche Gestaltwandler töteten solche Wesen, sobald sie sie sahen. Doch hin und wieder entpuppte sich ein Tierwer als intelligent, lernte zu sprechen und Gefühle auszudrücken. Und in noch selteneren Fällen konnte sich so ein Wesen fortpflanzen.
Ich war das Kind eines Boudaweibchens und eines Hyänenwers. Mein Vater war ein Tier. Die Gestaltwandler nannten Wesen wie mich ›Tiernachfahre‹. Und sie töteten uns. Machten kurzen Prozess, ohne groß Fragen zu stellen. Aus diesem Grund verbarg ich mein geheimes Ich und ließ es niemals heraus.
Raphael legte seine haarige, krallenbewehrte Hand sacht auf meine Schulter.
Gerne hätte ich mich jetzt in seine Arme geschmiegt. Wie albern von mir, schließlich war ich doch erwachsen und mehr als fähig, mich selbst zu verteidigen. Doch wie er so neben mir stand, überfiel mich die unglaubliche Sehnsucht, wie ein Kind von ihm gehalten zu werden. Stattdessen schüttelte ich seine Hand brüsk ab, schob das Foto wieder in den Bilderrahmen und ging zur Tür.
»Trautes Heim, Glück allein«, brummte Raphael und deutete auf ein wunderschönes zweistöckiges Backsteinhaus.
»Deins?«
Er nickte. Das Haus war groß und wirkte von außen sehr würdevoll. Bei seinen Casanova-Allüren würde es drinnen aber bestimmt nur so vor vibrierenden Herzbetten und Discokugeln wimmeln.
»Was machst du eigentlich so, Raphael?«
»So dies und das«, murmelte er.
Als er damals anfing, mich anzugraben, hatte ich mal ein bisschen recherchiert, aber mehr als seinen Vornamen und dass er das einzige Kind von Tante B war, hatte ich nicht in Erfahrung bringen können. Er gehörte der Führungsschicht des Rudels an und von daher waren mir seine Akten nicht zugänglich. Um tiefer zu bohren, hätte ich schon einen Haftbefehl haben müssen.
Ich hatte mich indes ein wenig bei einigen Hyänenweibchen nach ihm umgehört. Er hieß Raphael Medrano. Dem Rudel gehörten mehrere Firmen und er leitete eine davon: Medrano Abbau. Wenn die Magie ein Gebäude zerstörte, zermalmte sie den Beton zu Staub, doch das Metallgerüst blieb in der Regel unversehrt. Dann kam ein Abrissunternehmen wie Raphaels, rettete, was noch zu retten war, und verscheuerte das Altmetall an den höchsten Bieter oder kaufte es selbst. Die Arbeit war ziemlich gefährlich, doch da die halbe Welt in Schutt und Asche lag, hatte Raphael einen recht krisensicheren Job.
Er nahm meine Tasche, schloss die Haustür auf und hielt sie mir und Boom Baby auf. Ich trat in ein geräumiges Wohnzimmer mit gewölbter Decke. Auf dem Holzboden lag ein schlichter
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