Die fünf Leben der Daisy West
dann lautlos die Klappe.
Ich steige hinten ein. Cassie dreht sich auf dem Beifahrersitz kurz zu mir um und begrüßt mich, wendet sich dann aber gleich wieder ihrer Arbeit zu. Sie trägt noch immer die Sanitäterkleidung, hat aber ein ausgeblichenes graues Sweatshirt darübergezogen. Ihre strohblonden Haare sind zu einem festen, praktischen Zopf zusammengebunden. Sie schiebt ihre rahmenlose Brille hoch, die sie älter macht, als sie ist, und liest etwas auf dem Bildschirm des vom Staat zur Verfügung gestellten Supercomputers, der als Smartphone getarnt ist.
Ich sehe Mason nach, der für einen letzten Kontrollgang nachdrinnen zurückkehrt. Einen Moment lang bleibt mein Blick an dem Haus hängen, in dem ich die letzten drei Jahre gelebt habe. Ein bescheidener, zweigeschossiger Backsteinbau mit schwarzen Fensterläden, der aus der Zeit stammt, als die Menschen noch Telegrafen benutzten. Dieses knackende und knirschende alte Haus hat seinen ganz eigenen Charakter und ich werde es vermissen. Jetzt, da ich mich davon verabschieden muss, wird mir bewusst, dass ich wahrscheinlich nirgends so gern gelebt habe wie hier. Aber wer weiß, vielleicht ist das nächste noch besser.
Ich denke darüber nach, wie ich mein neues Zimmer einrichten werde, als ich Scheinwerfer auf uns zukommen sehe. Die schwarze Limousine hält dicht neben dem Geländewagen und mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Zwei dunkel gekleidete Männer steigen aus. Es ist jedes Mal wieder irgendwie aufregend, das Reinigungs-Team eintreffen zu sehen. Obwohl sie wahrscheinlich noch nie hier gewesen sind, öffnen sie die niedrige Eisenpforte ohne zu zögern und steigen die Stufen zum Eingang hinauf. Gerade als einer der Agenten nach der Klinke greift, tritt Mason heraus. Wortlos gehen sie aneinander vorbei und begrüßen sich lediglich mit einem kurzen Nicken.
Ich beobachte, wie die Tür hinter den Agenten zufällt. Wie eine Eule warte ich mit weit aufgerissenen Augen, dass sich im Haus etwas rührt, doch die Fenster bleiben dunkel, die Nacht still. Wer sie nicht beim Hineingehen gesehen hat, wird nicht merken, dass jemand im Haus ist. In ihrer schwarzen Tarnkleidung wirken sie wie Ninjas, während sie meine Spuren und die meiner falschen Familie löschen. Das Haus hinterlassen sie so authentisch leer, dass der Makler, der es verkaufen soll, nicht eine Sekunde auf den Gedanken kommen wird, jemand anders als ein nettes Paar mit einem vom Unglück heimgesuchten Teenager hätte darin gewohnt.
Sobald sie mit dem Haus fertig sind, mischen sich die Agenten für eine Weile verdeckt unter die Nachbarschaft, bis sich die Gemüter beruhigt haben. Unauffällig werden sie dafür sorgen, dassfolgende Geschichte die Runde macht: Die trauernden Eltern wären nach Arizona oder Georgia oder Maine zurückgekehrt, um den Verlust besser zu verkraften. In Umlauf gebracht werden die Gerüchte stets von einem dieser hinter seiner Kapuze nicht erkennbaren Typen an der Tankstelle oder von einem unscheinbaren Mädchen, die den Computer in der Bücherei benutzt.
Die Agenten – die Jünger – sind ausgebildete Ärzte, Wissenschaftler, Beobachter und Bodyguards. Ich bin jedoch der Ansicht, die meisten von ihnen hätten auch in Hollywood Karriere machen können.
Mason, in seiner bewährten Rolle als fürsorglicher Familienvater, nimmt auf dem Fahrersitz Platz. Mit den abgetragenen Jeans, den Halbschuhen und dem bequemen braunen Pullover sowie den müden, grünen Augen und dem zerzausten, dunklen, aber früh ergrauendem Haar passt er perfekt in diese Rolle, die er seit elf Jahren spielt.
»Wohin fahren wir?«, erkundigt sich Mason bei Cassie, die nicht einmal aufblickt, als sie mit ihrem Südstaatenakzent antwortet: »Nebraska. Omaha.«
Mason nickt und legt den Rückwärtsgang ein. Noch einmal suche ich mein ehemaliges Zuhause nach Anzeichen der staatlichen Agenten ab: vergeblich. Dann atme ich einmal tief aus und blase damit den Tag und die Stadt fort. Anschließend stopfe ich ein Kissen zwischen meinen Kopf und die kalte Fensterscheibe. Kaum haben wir die Einfahrt verlassen und sind aus der Straße ausgebogen, bin ich auch schon eingeschlafen.
Als ich die Augen öffne, ist es hell draußen. Das Licht schmerzt so sehr, dass ich die Sonne am liebsten mit einem Stein zertrümmern würde. Mir tut der Nacken weh und mein Mund fühlt sich an, als hätte ich gesalzene Wattebäusche gegessen. Im Rückspiegel sehe ich Masons Gesicht. Als er bemerkt, dass ich wach bin, lächelt er mir
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