Die fünf Leben der Daisy West
Ordnung.«
»Nächstes Mal klappt es vielleicht nicht mehr«, entgegnet er. »Ich kann dir nur raten, vorsichtiger zu sein. Denk an Chase!«
Bei dem Gedanken dreht sich mir der Magen um. Sieben Jahre nach dem Busunfall, mit dem alles angefangen hatte, starb Chase Rogers ohne ersichtlichen Grund. Er wurde mehrfach mit Revive wiederbelebt, aber laut Mason war er wohl gegen das Mittel immun geworden und ist damit endgültig gestorben.
»Ich bin nicht wie er«, sage ich leise.
Bess kommt und bringt die Rechnung, was uns für einige Minuten verstummen lässt.
»Ich bin nicht wie er«, wiederhole ich, als die Luft rein ist.
Mason schaut mir tief in die Augen.
»Das will ich hoffen. Aber sei bitte ein wenig vorsichtiger, okay?«
»Ist gut«, verspreche ich.
Direkt neben uns lässt sich eine Familie nieder, sodass die Unterhaltung zumindest für den Moment beendet ist.
»Haben meine hübschen Damen zu Ende gespeist?«, fragt Mason bewusst laut. Prompt seufzt die Mutter vom Nachbartisch. Mason kann richtig charmant sein, wenn er will.
Ich blicke auf meinen Teller hinab, auf dem nur am Rand noch einige rohe Zwiebelringe, ein verwelktes Salatblatt und ein Stück saure Gurke liegen.
»Ähm ... ja, habe ich«, murmele ich mit betont gelangweilter Teenagerstimme.
»Auf jeden Fall«, antwortet Cassie und klopft sich auf den flachen Bauch. »Ich bin pappsatt.«
»Wunderbar«, ruft Mason, »dann lasst uns von hier verschwinden.«
Wir gehen zum Tresen. Während er zahlt und wir warten, streicht mir Cassie abwesend – fast wie eine Mutter – eine abstehende Haarsträhne hinters Ohr und sieht mich liebevoll von der Seite an. Ich verdrehe die Augen und schiebe ihre Hand fort.
Nachdem Mason Bess noch Trinkgeld gegeben hat, hält er die klingelnde Tür mit der Aufschrift AUSGANG für Frau und Tochter auf. Solange wir von drinnen zu sehen sind, starre ich auf den Boden und gehe drei Schritte hinter meinen händchenhaltenden Eltern. Cassie lacht laut und grundlos.
Dann steigen wir in den Wagen und fahren davon.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
3
Möglicherweise liegt es daran, dass ich als Teil eines großangelegten wissenschaftlichen Experiments aufwachse und vielleicht ist es ganz normal, jedenfalls habe ich für jeden Ort, den wir verlassen, so etwas wie ein Postmortem-Erinnerungsritual. Die nächsten Stunden verbringe ich damit, die letzten drei Jahre in Frozen Hills Revue passieren zu lassen: eine mentale Obduktion Daisy Applebys, durchgeführt von der neu zum Leben erweckten Daisy West.
In dem Sommer, bevor ich in die siebte Klasse gekommen bin, sind wir nach Frozen Hills gezogen. Kurz zuvor war ich in Ridgeland, Mississippi, erstickt. Außerhalb von Ridgeland, um genau zu sein: Ich bin um einige Hausboote herumgeschwommen und habe mir dabei eine Kohlenmonoxidvergiftung zugezogen, weil ein Boot dort seinen Motor hatte laufen lassen.
Davon einmal abgesehen, dass ich also schon wieder sterben musste, habe ich es dennoch als großes Glück betrachtet, dass es vor Schuljahresbeginn geschehen ist. Ein noch größeres Glück war es, dass die Mittelstufe in Frozen Hills mit Klasse sieben begann, sodass ich gemeinsam mit all den anderen Zahnspange tragenden, pickeligen Siebtklässlern anfangen konnte. Wenige Tage, nachdem ich mein Zimmer im Stil der Heldin des Films Juno eingerichtet hatte, war der erste Schultag.
»Denkst du über die letzten Jahre nach?«, reißt mich Mason aus meinen Gedanken und lächelt mir über den Rückspiegel zu. Er weiß, wie ich ticke.
»Ja«, gestehe ich. »Ich denke gerade an eine Geburtstagsfeier.«
»Ah«, sagt er. »Die Party von Nora ...«
»Fitzgerald«, helfen Cassie und ich einstimmig aus.
»Ja, genau die«, bestätige ich.
Nora Fitzgerald.
Sie wohnte in derselben Straße wie wir, in einem sonnengelben Haus mit dunkelgrünen Läden und einem »Willkommen«-Schild an der Haustür. Ihre Mutter war eine dieser besonders fürsorglichen Frauen, die schon beim Eintreffen des Umzugswagens mit frisch gebackenen Keksen bereitstehen. Cassie machte Mrs Fitzgeralds Bedürfnis, in unsere Welt einzudringen, verrückt. Immer wieder äußerte sie laut den reichlich paranoiden Verdacht, Noras Mutter wäre womöglich eine Spionin für ein anderes Land, das versucht, an die Formel von Revive zu kommen. Sie meinte, die Rolle der »spießigen Hausfrau« wäre die perfekte Tarnung.
Zwei Wochen, nachdem wir eingezogen waren, stand Nora mit einer Einladung
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