Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)
Fall
von Amnesie zu sein. Auslöschung des Gedächtnisses. Er kann sich nicht einmal
erinnern, wie man aufrecht geht. Alle seine Reaktionen sind rein instinktiv.“
„Für mich sieht er eher aus, als
hätte er den Verstand verloren“, sagte Randori herablassend.
Die Frau runzelte verunsichert die
Stirn. Sie schien noch sehr jung, auch wenn das an ihrem Aussehen natürlich
schwer abzulesen war. „Wir haben keine klaren Daten. Mit Glück fehlt ihm nur
das Wissen, und er besitzt das gleiche Lernpotential wie ein neugeborenes Baby.
Im Moment ist er viel zu verängstigt und verwirrt, um eine intelligente
Reaktion zu zeigen.“
„Nun, dann schlage ich vor, Sie
schaffen erst mal die Zuschauer weg“, sagte Randori mit Schärfe in der Stimme.
„Wenn eine ganze Schiffscrew mich angaffen würde, wäre ich auch verwirrt.“
Die Ärztin beeilte sich, dem
Befehl Folge zu leisten, und bald waren sie allein mit der nackten, verstörten
Kreatur, die einmal Caravan gewesen war. Was konnte mit ihm passiert sein? Wodurch
war sein Gedächtnis ausgelöscht worden? Und wo verflixt war sein Tauchanzug
geblieben? Wilde Spekulationen jagten ihr durch den Kopf: Vielleicht hatte jemand
den Matrosen gefangen genommen, ihm den Anzug ausgezogen, um seinen Körper zu
untersuchen, und am Ende eine Amnesie herbeigeführt, damit er nichts davon
berichten konnte. Dann hatte man ihn auf der Insel abgesetzt …
Aber vielleicht hatte sie sich auch
nur von Lazarus Botschaft verrückt machen lassen, und alles war viel harmloser.
Caravan hatte vermutlich einen Unfall mit Gehirnerschütterung gehabt und dabei sein
Gedächtnis verloren. Danach war er ziellos weitergeschwommen und auf die
treibende Insel aufmerksam geworden. Er war an Land geklettert, das plötzliche
Gewicht der Atemflaschen hatte ihn gestört, und er hatte den Anzug ausgezogen,
um sie loszuwerden. Das klang doch sehr vernünftig.
Leider glaubte sie keine Minute
daran, dass es so einfach war.
Randori knurrte. Das letzte, was
sie jetzt gebrauchen konnte, war eine fremde Intelligenz, die sich in die
Besiedlungspolitik einmischte. Als wenn sie nicht schon genug Probleme hätte. Es
gefiel ihr ganz und gar nicht, darauf zu warten, in was für eine Space Opera
sie wohl hineingeschubst wurde – in den totalen Krieg gegen die schrecklichen
Seelentrinker oder die Erleuchtung durch die weisen Fisch-Adepten des Zfilzrsijj-Tempels?
Eins jedenfalls wusste sie mit Sicherheit: Die Passagiere durften von den
Vorgängen um Caravan nichts erfahren. Wilde Gerüchte, Massenpanik, sie konnte
sich alle möglichen Konsequenzen vorstellen, wenn erst über Aliens gerätselt
wurde. Nein, die offizielle Version würde harmloser aussehen. Ein Matrose hatte
einen Unfall gehabt und war gerettet worden. Er hatte ein Gehirntrauma
erlitten. Man hatte ihn zur Beobachtung in eine Krankenstation gebracht. Leider
keine Besuche, man musste erst abwarten, wie sich sein Zustand entwickelte.
Nach kurzer Zeit würde der Fall Caravan vergessen sein und niemanden mehr
interessieren.
Sie nickte entschlossen und wandte
sich wieder dem augenblicklichen Problem zu: dem verängstigten Mann, der
zusammengekauert vor ihr auf dem Boden hockte. Er hatte den Kopf zwischen den
Händen versteckt und blinzelte jetzt, wo die vielen Stimmen um ihn herum verschwunden
waren, vorsichtig zwischen den Fingern hervor.
„Wo ist Serail, sein Getrauter?“, fragte
Randori in Richtung der Ärztin. „Vielleicht kann er helfen.“
„Er liegt mit einer Dosis
Beruhigungsmittel in der Notaufnahme 95.3 Madonna. Ich glaube nicht, dass wir
ihm seinen Freund in diesem Zustand vorführen sollten.“ Sie räusperte sich
nervös.
„Immerhin ist Caravan am Leben.
Das ist doch eine gute Nachricht.“ Randori schaute abschätzend auf den nackten
Mann vor sich. „Mal sehen, ob ich an ihn herankomme.“ Sie ging langsam in die
Hocke und streckte eine Hand aus. Caravan wich auf allen Vieren zurück und
fletschte in einem ängstlichen Grinsen die Zähne. Doch wenig später siegte die
Neugier über die Fluchtreflexe. Der Mann kroch auf sie zu und begann, an ihren
Fingern zu schnüffeln.
Randori lächelte. Caravan ahmte
den Gesichtsausdruck nach. „Ja, so ist es gut, ei-du-du“, sagte die Kapitänin
in Babysprache und kam sich ziemlich albern vor. Als Antwort begann der
Matrose, ihr mit den Händen im Haar zu zausen. „Na großartig, jetzt ist er ein Schimpansen
beim Begrüßungslausen.“ Sie kraulte seufzend durch Caravans Blondschopf, und er
antwortete
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