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Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Titel: Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Nolte
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zu überlassen. Und vielleicht, ganz vielleicht, spürte sie sogar eine
gewisse Sympathie für den Matrosen. „Schiffsmaat Caravan wird bei mir einziehen“,
erklärte sie.
    „Na, das ist doch perfekt. Sie
können ihn im Namen der Regierung im Auge behalten, und wenn ihm plötzlich
Tentakel wachsen, wissen Sie bestimmt am besten, was zu tun ist.“
    Randori zuckte mit den Schultern. Solange
Dr. Nachtigall in der Öffentlichkeit den Mund hielt, konnte sie so ironisch und
überlegen tun wie sie wollte. Randori half Caravan vom Untersuchungstisch
herunter und brachte ihn zurück zum Shuttle, wo die Gildenärztin von der
Tanginsel ihn eine Weile beaufsichtigen konnte. Dann machte sie einen kurzen
Patientenbesuch bei Caravans Getrautem, den man ebenfalls in die Notaufnahme befördert
hatte.
     
    Nachdenklich schaute sie auf den
Matrosen herab, wie er bewusstlos zwischen den weißen Laken lag. Serail war
blass, die Augenlider geschwollen, er bewegte sich unruhig in der Betäubung.
Man hatte ihm eine aufklappbare Schlafliege hingestellt. Die Krankenstation war
für ambulante Behandlung eingerichtet, und es gab wenig Betten. Wer eine
längere Pflege nötig hatte, konnte in seiner eigenen Wohnung bleiben, wo er
sich geborgen fühlte. Der Strom überwachte dort die Körperfunktionen des
Patienten, der Recycler zauberte die nötigen Medikamente und Apparate herbei, und
die Medizinergilde besaß genügend Mitglieder für ständige Kontrollbesuche.
Serail würde sofort nach Hause geschickt werden, wenn er aufwachte.
Wahrscheinlich würde für die ersten Tage ein Psychologe bei ihm einziehen,
schon deshalb, weil er bestimmt noch nie im Leben alleine gewohnt hatte. Was
würde man ihm über den Zustand seines Getrauten sagen? Es wäre besser, wenn die
beiden zusammen bleiben könnten.
    Während Randori den jungen Mann
betrachtete, dachte sie über all das nach, was sie im Strom über ihn erfahren
hatte. Er war 38 Jahre, fast noch ein Kind nach den Maßstäben der
Antiqui-Gesellschaft, und anscheinend benahm er sich auch so. Die Spuren, die
er im Netz hinterlassen hatte – seine Verabredungen, Gilden-Chats,
Tagebucheinträge – zeigten ihn als primadonnenhaft und selbstverliebt. Er hatte
einen Hang zu morbiden Grübeleien, die Randori an einen krisengeschüttelten Teenager
erinnerten. In seiner kurzen Lebenszeit hatte er schon zwölf Mal seine Gildenzugehörigkeit
gewechselt und war dabei von einem Extrem ins andere gefallen. Im Augenblick
war er ein Mitglied der Illusionisten, was schon an seinem Körperschmuck zu
erkennen war. Selbst unter dem Tauchanzug hatte er als Gildezeichen seine Arm-und Fußringe getragen, die je nach Blickwinkel sichtbar oder unsichtbar wurden.
Die Gilde war vor allem berüchtigt dafür, wie leichtsinnig sie mit veränderter
Wahrnehmung experimentierte. Ihr wichtigster Glaubenssatz lautete, dass
zwischen den Strom-Illusionen und dem, was man allgemein als Realität betrachtete,
kein wesentlicher Unterschied bestand. Beides war gleich unwirklich, die Welt
war nur ein schöner Schein, ein täuschendes Blendwerk … Natürlich war diese
Idee alles andere als neu. Randori kannte sich gut genug mit den Asia-Gilden
aus, um die uralte hinduistische Vorstellung wiederzuerkennen, die sich ‘Maya’,
weltliche Illusion, nannte.
    Auf der Arche hatte diese
Philosophie eine neue Wendung genommen. Der Weg zur Erleuchtung lag für die
Illusionisten in einer Veränderung ihrer Sinneserfahrung. Sie strebten danach,
die verschiedenen Realitäten auf dem Schiff gleichzeitig wahrnehmen zu können.
Wenn man sein Bewusstsein so erweitert hatte, dass man zur selben Zeit den
Grand Canyon und die Schnellstraße voller Passagiere sehen konnte, war man der
Erleuchtung ein wichtiges Stück näher gekommen. Man erkannte ganz deutlich die
Nichtigkeit des Daseins, alles wurde geisterhaft und unwirklich.
    Natürlich führte diese Philosophie
dazu, dass das Fußvolk der Gilde sich unter dem Vorwand der Wahrheitssuche in
einem ständigen Rauschzustand befand. Es gab keine Droge, die ein Illusionist
nicht ausprobieren würde, um ‘sein Bewusstsein zu erweitern’. Randori
schnaubte. Sie hatte für diese Art der Wirklichkeitsflucht nicht viel übrig.
Vielleicht würde es Serail ganz gut tun, sich einmal mit einem echten Problem
herumschlagen zu müssen. Vielleicht würde Caravans Unfall ihn aus seinem flatterhaften
Dasein aufrütteln und ein bisschen Verantwortungsgefühl in ihm wachrufen. Es
würde interessant sein, dabei zuzusehen.

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