Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)
mehr.“
„Was?“
„Er befindet sich in der
Stromrealität und kann sie nicht abschalten“, erklärte die Frau.
Randori starrte sie einen
Augenblick an. „Natürlich“, sagte sie dann und schüttelte den Kopf. „Darauf
hätte ich selbst kommen können. Wenn jemand auf der Straße nach unsichtbaren
Insekten schlägt, weiß jeder, dass er sich im Strom befindet. Aber bei Caravans
Zustand habe ich automatisch gedacht ... Himmel, es ist ja kein Wunder, dass er
in Panik gerät, wenn sich plötzlich ein Eichenwald voller Glühwürmchen durch
die Wände unseres Fliegers schiebt.“ Sie blinzelte, um Caravans Realität zu teilen
und sah weiße Schäfchenwolken durch den Raum ziehen, die sein Bett in ein Meer
aus Zuckerwatte hüllten. Der Matrose hielt eine Hand in die Höhe und sah
neugierig zu, wie das Weiß durch seine gespreizten Finger waberte.
Die Ärztin räusperte sich. „Anscheinend
wurde ihm das Implantat aus der Stirn entfernt und zwar so professionell, dass
keinerlei Narben oder Veränderungen des Gehirngewebes zu erkennen sind. Ich
würde das für unmöglich halten, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen
hätte. Und ich frage mich natürlich, welche Technik so fortgeschritten ist ...“
„Das kann ich Ihnen leider nicht
beantworten“, sagte Randori knapp. „Und ich appelliere hiermit in aller Form an
Ihre ärztliche Schweigepflicht, Passagier Nachtigall.“
Die Frau nickte steif. Die Eide
der Mediziner-Gilde waren streng, was die Schweigepflicht betraf. Randoris
Bitte enthielt eine nicht allzu versteckte Drohung für den Fall, dass Informationen
durchsickerten. „Da ist noch eine andere Auffälligkeit“, sagte die Ärztin kühl.
„Der Patient scheint körperlich in völlig perfektem Zustand zu sein.“
„Und? Das klingt doch gut.“
Dr. Nachtigall schüttelte
ungeduldig den Kopf. „Sie verstehen nicht. Mit perfekt meine ich perfekt .
Kein Bandscheibenverschleiß, kein Karies, keine winzige Akne-Narbe ... Dieser
Mann ist seinen Akten zufolge 92 Jahre alt. Trotz der Antiqui-Behandlung
sollten zumindest ein paar Kalkablagerungen in den Arterien vorhanden sein.
Außerdem hatte er im Laufe seines Lebens drei Fechtverletzungen von seiner Jugendzeit
bei den Dumas und eine gebrochene Rippe von den Shaolin. Davon ist jetzt nichts
mehr zu sehen. Ein medizinisches Wunder, würde ich sagen.“
Randori schaute ungläubig, dann
wurden ihre Augen schmal. „Ich mag keine Mysterien. Ich habe die Arche gern
einfach und übersichtlich. Wunder machen nur Probleme.“
Die Ärztin zuckte mit den
Schultern. „Wenn Sie meinen fachlichen Rat hören wollen: Caravan gehört nicht
auf die Krankenstation, er ist kerngesund. Aber er sollte eine Weile unter
privater Beobachtung bleiben. Wer weiß, was für Überraschungen er noch bereit
hält.“
„Sie haben Recht.“ Randori nickte überlegend.
„Jemand sollte ihn im Auge behalten.“
„Natürlich ein Crew mit passender
Geheimhaltungsstufe, der sich an die Verschwiegenheitspflicht hält.“ Dr.
Nachtigall lächelte, aber ihr nordisch kühles Gesicht mit den eisblauen Augen
blieb ansonsten völlig unbewegt.
Randori überhörte die Spitze und
fragte sachlich: „Noch etwas?“
„Ich möchte Caravan nicht sofort
ein neues Implantat einpflanzen. Eine Gehirnoperation ist im Moment das Letzte,
was er braucht.“
„Also sollte er bei jemandem unter
Beobachtung bleiben, der keine Stomillusionen in seiner Kabine hat. Sonst wird
er die ganze Zeit so verwirrt reagieren wie bei den Glühwürmchen und den
Wolken.“ Randori seufzte. Sie selbst hatte die ungewöhnliche Entscheidung
getroffen, ihre Wohnung im Naturzustand zu belassen. Die ständige
Reizüberflutung an Bord erschien ihr ermüdend, dekadent und ungesund, und wenn
sie nach Hause kam, hatte sie ein Bedürfnis nach Schlichtheit und Wirklichkeit … Außerdem gefiel es ihr, auch in diesem Punkt aus dem Rahmen zu fallen.
Sie hatte den leisen Verdacht,
dass Dr. Nachtigall darüber Bescheid wusste und ihr den schwierigen Patienten
als Untermieter aufdränge wollte – als Revanche dafür, dass Randori sie unter
Druck gesetzt hatte. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Caravan für eine Weile
persönlich zu überwachen, schien auf jeden Fall eine vernünftige Idee. Der
Matrose hatte sich schon an ihre Nähe gewöhnt und bei einer eventuellen Krise war
sie am besten geeignet, eine schnelle, politisch akzeptable Entscheidung zu
treffen. Davon abgesehen war sie viel zu neugierig, um diesen Fall jemand
anderem
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