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Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition)

Titel: Die fünf Seelen des Ahnen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Nolte
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murmelte Dr. Nachtigall vor sich hin. „Ich bekomme jetzt keinen
hysterischen Anfall.“
    Die Operation verlief nicht wie
erwartet. Genau genommen stand die Chefärztin kurz davor, sich vor Frustration
die Fingernägel abzukauen.
    Ein Implantat einzusetzen, war
sonst der langweiligste Routineeingriff, den man sich vorstellen konnte. Jeder
an Bord hatte diese Prozedur hinter sich. Die Operation wurde im Alter von
zwölf Jahren durchgeführt, wenn das Gehirn genügend ausgereift war. Bis zu
diesem Zeitpunkt verbrachten die Kinder ihr Leben in eigens für sie gebauten
Wohnbereichen ohne Strombilder. Jeder Großstadtblock besaß einen solchen Hort,
wo die Eltern ihre Babys gleich nach der Geburt abgaben. Alles andere führte zu
starken psychischen Problemen bei den Kindern. In einer Welt aus Wachträumen
und Illusionen aufzuwachsen, nie zwischen Realität und Fantasie unterscheiden
zu können, hätte die meisten von ihnen in den Wahnsinn getrieben.
    Natürlich konnten die Eltern ihre
Sprösslinge täglich besuchen, wenn sie wollten. Eine zu enge Bindung galt jedoch
als ungesund. Heranwachsende gehörten unter sich, zusammen mit ihren Betreuern
von der Pädagogen-Gilde.
    Der zwölfte Geburtstag war der
Tag, dem jedes Kind entgegenfieberte. Dann wurde es zum Operationssaal
gebracht, wo der gesamte Verwandtenkreis in Festkleidung wartete und zuschaute,
wie das Implantat eingesetzt wurde. Anschließend wurde es mit Geschenken und
Glückwünschen überschüttet, und dann betrat es zum ersten Mal die Welt der
Erwachsenen – den Stromraum mit seinen berauschenden Fantasielandschaften.
Jeder Schritt durchs Schiff wurde zu einem Abenteuer. Nachtigall konnte sich
noch genau daran erinnern, wie sie nach der OPFeier die Arche erkundet hatte.
Sie war tagelang regelrecht berauscht gewesen und hatte ihre beiden Mütter durch
den halben Großstadtblock geschleift. Da konnte man wie ein Insekt durch Wiesen
aus haushohen Grashalmen laufen oder sich in einem Saal wiederfinden, der mit
schwebenden Seifenblasen gefüllt war. Wenn man sich durch das Schaumbad hindurchtastete,
platzten die Blasen nicht, sondern streichelten belebend an der Haut entlang
und fühlten sich an wie Pfefferminzgeschmack. In einem Stadtviertel musste man
runden Pelztieren ausweichen, die zwitschernd durch die Gänge rollten. Es gab
Wälder aus farbigem Glas, die nach Zimt dufteten, wenn der Wind durch die Äste
strich. Die Arche war voller Überraschungen.
    … und eine davon lag nun auf Dr.
Nachtigalls Operationstisch. Der örtlich betäubte Caravan schaute sie aus
großen Augen an, während sie den chirurgischen Roboter mit Flüchen belegte. Das
Gerät hatte sämtliche Funktionen eingestellt und blinkte nur ‘Error, Error’ vor
sich hin.
    Kein Wunder, dachte die Ärztin. Am
liebsten hätte sie sich auch mit einer Fehlermeldung von der Arbeit
verabschiedet.
    Vor einer halben Stunde waren die
beiden Matrosen in den medizinischen Trakt 95.3 Madonna gekommen. Nachtigall
hatte Caravans Getrauten im Wartesaal sitzen lassen, ihr Personal aus dem OP geschickt
und sich ohne Zuschauer um den Patienten gekümmert. Befehl war Befehl. Zwar hielt
die Chefärztin nicht viel von der Crew, (wer von den Passagieren tat das
schon?), und die Kapitänin war diesmal nicht persönlich anwesend, um auf Diskretion
zu bestehen. Aber Doktor Nachtigall sah ein, dass es an Bord eine Kommandostruktur
geben musste, und gehorchte ihren Anweisungen.
    Daher war sie ganz allein gewesen,
als sie Caravan noch einmal von Kopf bis Fuß untersucht und mit dem chirurgischen
Roboter den Gehirnscan durchgesprochen hatte, um zu entscheiden, wo das
Implantat am besten eingesetzt werden sollte. Die Operation selbst war
vollständig automatisiert und wurde nur ärztlich überwacht, falls es Probleme
gab.
    Und die gab es in der Tat.
    Nachtigall biss die Zähne
zusammen, fuhr den Computer auf die Starteinstellung zurück und begann noch
einmal von vorn. Der Roboter führte den ersten Arbeitsschritt durch und setzte
mit dem Cerebral-Laser mehrere genau berechnete Schnitte im Stirnbereich.
Nachtigall betrachtete im Strom eine dreidimensionale Darstellung von Caravans
Schädelinnerem und verfolgte, wie Knochen und Gewebe durchtrennt wurden – nur
um in Sekundenschnelle wieder zusammenzuwachsen. Zerschnittene Blutäderchen
schlossen sich, Nervenverbindungen wurden wiederhergestellt. Die Wundheilung
sah aus wie eine Zeitrafferaufnahme.
    Nachtigall knurrte frustriert. Sie
blinzelte sich aus dem Strom und schaute

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