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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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Mörder meiner Eltern. Ich konnte den Anblick seines Gesichts stets mühelos vor mir heraufbeschwören. Dazu musste ich nicht mal die Augen schließen.
    Ich entrollte das Pergament weiter. Da war ein zweiter Mann oder eher die Gestalt eines Mannes unter einem weiten Kapuzengewand. Und unter der Kapuze war weiter nichts als Schwärze. Über seinem Kopf waren drei Monde zu sehen – ein Vollmond, ein Halbmond und ein Viertelmond. Neben ihm standen zwei Kerzen. Die eine war gelb und brannte mit leuchtend orangefarbener Flamme. Die andere Kerze stand unter seiner ausgestreckten Hand. Sie war grau, und ihre Flamme war schwarz, und der Raum drumherum sah irgendwie rußig aus.
    »Das soll sein Schatten sein, nehme ich an«, sagte Nina und deutete auf die Stelle unterhalb seiner Hand. »Auf der Vase war das besser zu erkennen. Ich musste Kohle dafür nehmen. Mit Farbe hab ich das nicht richtig hingekriegt.«
    Ich nickte. Das war Haliax, der Anführer der Chandrian. Als ich ihn damals gesehen hatte, war er von einem widernatürlichen Schatten umgeben gewesen. Die Feuer rings um ihn her wirkten seltsam gedämpft, und unter seiner Kapuze war es so dunkel wie auf dem Grund eines Brunnenschachts.
    Nun entrollte ich das Pergament vollends, und eine dritte Gestalt kam zum Vorschein, größer als die beiden anderen. Dieser Mann trug eine Rüstung und einen offenen Helm. Auf der Brust hatte er ein farbiges Emblem, das wie ein Herbstblatt aussah, rot am Rand und orange zur Mitte hin, mit einem geraden, schwarzen Stengel.
    Seine Gesicht war gebräunt, aber die Hand, die er erhoben hielt, war leuchtend rot. Seine andere Hand war hinter einem großen, runden Gegenstand verborgen. Nina war es irgendwie gelungen, diesen in einem metallisch schimmernden Bronzeton zu malen. Vermutlich sollte es ein Schild sein.
    »Der ist mir am schlechtesten gelungen«, sagte Nina mit gedämpfter Stimme.
    |386| Ich sah sie an. Sie blickte ernst, und ich nahm an, dass sie mein Schweigen falsch gedeutet hatte. »Sag doch so was nicht«, erwiderte ich. »Du hast das großartig gemacht.«
    Sie lächelte matt. »So hab ich das nicht gemeint«, sagte sie. »Er war echt schwer zu malen. Das Kupfer hab ich noch einigermaßen hingekriegt«, sagte sie und deutete auf den Schild. »Aber dieses Rot …« Sie deutete auf die erhobene Hand. »Das soll eigentlich Blut sein. Seine Hand ist blutüberströmt.« Sie pochte ihm auf die Brust. »Und das war leuchtender, so als würde es brennen.«
    Da erkannte ich ihn. Das Emblem auf seiner Brust war gar kein Blatt. Es war ein Turm, der in Flammen stand. Und seine blutüberströmte, erhobene Hand wies nicht auf etwas. Nein, er hatte sie in einer mahnenden Geste gegenüber Haliax und den anderen erhoben. Er hatte die Hand erhoben, um ihnen Einhalt zu gebieten. Dieser Mann war einer der Amyr. Einer der Ciridae.
    Nina schauderte und zog ihren Umhang enger um sich zusammen. »Ich ertrage es immer noch nicht, ihn anzusehen«, sagte sie. »Sie waren alle scheußlich anzusehen. Aber er war der Schlimmste. Ich kann nicht gut Gesichter malen, aber seins hat schrecklich grimmig geguckt. Er sah sehr, sehr wütend aus. Er sah aus, als wäre er drauf und dran, die ganze Welt in Schutt und Asche zu legen.«
    »Wenn das nur die eine Seite ist«, sagte ich, »weißt du dann auch noch, wie der Rest aussah?«
    »Nicht so wie das, anders. Ich erinnere mich an eine Frau, die gar nichts anhatte, und an ein zerbrochenes Schwert … und an ein Feuer …« Sie blickte nachdenklich und schüttelte dann den Kopf. »Wie gesagt, ich hab’s nur ganz kurz gesehen, als Jimmy mir die Vase gezeigt hat. Ich glaube, ein Engel hat mir geholfen, mich an diesen Teil des Traums zu erinnern, damit ich es malen und dir bringen konnte.«
    »Nina«, sagte ich. »Das ist wirklich unglaublich. Du ahnst gar nicht, was für einen Gefallen du mir damit getan hast.«
    Da lächelte sie wieder. »Das freut mich. Es war nämlich wirklich ganz schön schwierig, das hinzukriegen.«
    »Wo hast du denn das Pergament her?«, fragte ich. Es war ein |387| sehr hochwertiges Material. So etwas hätte ich mir gar nicht leisten können.
    »Ich hab’s zuerst auf ein paar Holzplatten ausprobiert«, sagte sie. »Aber mir war schnell klar, dass das nicht funktionieren würde. Und außerdem wusste ich ja, dass ich es verstecken muss. Also bin ich in die Kirche geschlichen und hab da ein paar Seiten aus dem Buch rausgeschnitten«, sagte sie ohne die geringste Verlegenheit.
    »Du hast das aus

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