Die Furcht des Weisen / Band 1
ich.
»Die ist im EOLIAN«, sagte Wilem. »Du hast mindestens schon viermal danach gefragt, seitdem wir aufgebrochen sind.«
»Nein, habe ich nicht«, sagte ich mit mehr Überzeugung, als ich verspürte. Ich rieb mir den Kopf, wo ich ihn mir an dem Graustein gestoßen hatte.
»Kein Grund, sich zu schämen«, sagte Wilem und winkte ab. »Es ist ganz normal, dass man in Gedanken bei etwas verharrt, das einem am Herzen liegt.«
»Ich hab gehört, Kilvin soll sich vor ein paar Monaten in einer |393| Schenke einen hinter die Binde gegossen haben, und dann wollte er gar nicht mehr aufhören, von seiner neuen Kaltschwefel-Lampe zu schwärmen«, sagte Simmon.
Wil schnaubte. »Lorren quasselt dann immer über das fachmännische Einstellen der Bücher in die Regale.
Die Bücher immer nur am Rücken anfassen. Immer nur am Rücken anfassen
.« Er knurrte und machte mit beiden Händen Greifbewegungen. »Wenn er noch einmal davon anfängt, fasse ich
ihn
mal am Rücken an.«
Da blitzte in mir eine Erinnerung auf. »Grundgütiger Tehlu«, sagte ich, mit einem Mal entgeistert. »Habe ich heute Abend im EOLIAN etwa
Tinker Tanner
gesungen?«
»Ja, hast du«, sagte Simmon. »Ich wusste gar nicht, dass es so viele Strophen hat.«
Ich runzelte die Stirn und versuchte verzweifelt, mich zu erinnern. »Habe ich etwa auch die Strophe gesungen, die von dem Tehlaner und dem Schaf handelt?« Das war keine Strophe, die man in gehobener Gesellschaft zum Besten geben sollte.
»Nee«, sagte Wilem.
»Gott sei Dank«, sagte ich.
»Es ging nicht um ein Schaf. Es ging um eine Ziege«, brachte Wilem noch in ernstem Ton hervor, ehe er in Gelächter ausbrach.
»… unter des Tehlaners Rock!«, sang Simmon und fiel in Wilems Gelächter ein.
»Nein, nein, nein«, klagte ich jämmerlich und hielt mir mit beiden Händen den Kopf. »Meine Mutter hat meinen Vater immer dazu verdonnert, unter dem Wagen zu schlafen, wenn er dieses Lied in der Öffentlichkeit gesungen hat. Wenn Stanchion mich das nächste Mal sieht, wird er mich mit einem Stock verprügeln und mir mein Abzeichen wegnehmen.«
»Die waren alle begeistert«, versicherte mir Simmon.
»Stanchion hat mitgesungen, das habe ich gesehen«, fügte Wilem hinzu. »Er war da auch schon nicht mehr ganz nüchtern.«
Darauf folgte langes, behagliches Schweigen.
»Kvothe?«, sagte Simmon schließlich.
»Ja?«
»Bist du wirklich ein Edema Ruh?«
|394| Die Frage traf mich unvorbereitet. Normalerweise wäre sie mir gegen den Strich gegangen, aber in diesem Moment löste sie in mir fast gar nichts aus. »Spielt das irgendeine Rolle?«
»Nein. Ich hab mich das bloß gefragt.«
»Ah.« Ich sah weiter zum Sternenhimmel empor. »Und weshalb hast du dich das gefragt?«
»Nur so«, sagte er. »Ambrose hat dich ein paar Mal einen Ruh genannt, aber er hat dich ja auch noch mit anderen Beleidigungen belegt.«
»Das ist keine Beleidigung«, sagte ich.
»Ich meine: Er hat Dinge über dich behauptet, die einfach nicht stimmen«, fügte Simmon schnell hinzu. »Du sprichst nie über deine Familie. Aber du hast ein paar Sachen gesagt, die mich zum Nachdenken gebracht haben.« Er zuckte die Achseln. Er lag immer noch flach auf dem Rücken und sah zum Sternenhimmel. »Ich habe nämlich nie einen Edema gekannt. Jedenfalls nicht gut.«
»Es stimmt nicht, was man sich über uns erzählt«, sagte ich. »Wir klauen keine Kinder. Und wir huldigen auch nicht irgendwelchen finsteren Gottheiten oder so was in der Richtung.«
»Daran habe ich auch nie geglaubt«, sagte er und fügte dann hinzu: »Aber manches von dem, was man sich über euch erzählt, muss doch wahr sein. Ich habe zum Beispiel noch nie einen so guten Lautenspieler erlebt wie dich.«
»Das hat nichts damit zu tun, dass ich ein Edema Ruh bin«, sagte ich. »Na ja, ein bisschen vielleicht schon.«
»Tanzt du auch so gut?«, fragte Wilem wie aus heiterem Himmel.
Wenn diese Frage von jemand anderem gekommen wäre oder zu einem anderen Zeitpunkt, hätte sie wahrscheinlich einen Streit ausgelöst. »So stellen sich die Leute das doch bloß vor. Wir spielen Flöte und Fiedel und tanzen ums Lagerfeuer herum. Natürlich nur, wenn wir nicht gerade alles klauen, was nicht niet- und nagelfest ist.« Ein wenig Bitterkeit schlich sich in meinen Tonfall. »Aber darum geht es überhaupt nicht, wenn man ein Edema Ruh ist.«
»Sondern? Worum geht es?«, fragte Simmon.
Ich dachte einen Moment lang darüber nach, aber mein vom Alkohol benebeltes Hirn war dieser
Weitere Kostenlose Bücher