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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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Schenken ein, landeten schließlich aber doch wieder im EOLIAN. Ich schätzte das Lokal aufgrund der Musik, Simmon wegen der Frauen und Wilem, weil es dort Scutten gab.
    Ich war schon ganz gut angeheitert, als ich auf die Bühne gerufen wurde, aber es braucht schon mehr als nur ein bisschen Alkohol, um mich meiner Fingerfertigkeit zu berauben. Nur um zu beweisen, dass ich nicht betrunken war, meisterte ich
Wonnetränen und Wirtshausszenen
, ein Lied mit einem Text, den man selbst stocknüchtern kaum fehlerlos über die Lippen bekommt.
    Das Publikum war begeistert und dankte es mir auf die übliche Weise, und da ich an diesem Abend ausnahmsweise keinen Sounten trank, ist ein Großteil des Abends aus meinem Gedächtnis verschwunden.

    Wir drei gingen schließlich den weiten Weg vom EOLIAN nach Hause. In der Luft lag eine Frische, die schon vom nahenden Winter kündete, doch wir drei waren jung und voll des guten Trunkes und |391| spürten die Kälte daher gar nicht. Eine Böe strich mir den Umhang nach hinten, und ich atmete tief und glücklich ein.
    Dann packte mich plötzlich die Panik. »Wo ist meine Laute?«, stieß ich hervor.
    »Die hast du bei Stanchion im EOLIAN gelassen«, sagte Wilem. »Er fürchtete, du würdest darüber stolpern und dir das Genick brechen.«
    Simmon war mitten auf der Straße stehengeblieben. Ich lief auf ihn zu, verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin. Er schien das kaum zu bemerken. »Also«, sagte er in bierernstem Ton, »dem fühle ich mich jetzt echt nicht gewachsen.«
    Vor uns ragte die große Steinbrücke auf: siebzig Meter Spannweite, und der steile Bogen hob sich in der Mitte fünf Geschosse hoch empor. Diese Brücke war ein Bestandteil der großen Steinstraße: pfeilgerade, vollkommen eben und älter als Gott. Ich wusste, dass die Brücke so viel wog wie ein ganzer Berg. Und ich wusste, dass sie an beiden Seiten eine hohe Brüstung besaß.
    Doch obwohl ich all das wusste, war mir bei dem Gedanken, diese Brücke jetzt zu überqueren, ausgesprochen mulmig zu Mute. Unsicher erhob ich mich wieder.
    Wir drei betrachteten die Brücke, und Wilem begann sich langsam zur Seite zu lehnen. Ich griff nach ihm, um ihn festzuhalten, und gleichzeitig ergriff Simmon meinen Arm, aber ob er mir helfen oder sich selbst Halt verschaffen wollte, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen.
    »Dem fühle ich mich jetzt echt nicht gewachsen«, sagte Simmon noch mal.
    »Da drüben gibt’s ’ne Stelle, wo man sich gut hinsetzen kann«, sagte Wilem. »
Kella trelle turen navor ka
.« Er führte uns gut zwanzig Meter vom Fuß der Brücke fort zu einer kleinen Lichtung. Zu meiner Überraschung stand in der Mitte dieser Lichtung ein großer Graustein und wies zum Himmel empor.
    Wil betrat die Lichtung wie etwas Altbekanntes. Ich näherte mich langsamer und sah mich neugierig um. Grausteine haben für fahrende Theaterleute eine ganz besondere Bedeutung, und als ich diesen erblickte, löste das alle möglichen gemischten Gefühle in mir aus.
    |392| Simmon ließ sich ins Gras plumpsen, und Wilem lehnte sich mit dem Rücken an einen schiefen Birkenstamm. Ich ging zu dem Graustein und berührte ihn mit den Fingerspitzen. Er war warm und fühlte sich vertraut an.
    »Nicht drücken«, sagte Simmon in ängstlichem Ton. »Sonst kippst du ihn um.«
    Ich lachte. »Dieser Stein steht hier seit tausend Jahren, Sim. Ich glaube nicht, dass ich ihm irgendwas anhaben könnte.«
    »Trotzdem. Komm da weg. Diese Dinger sind nicht geheuer.«
    »Das ist ein Graustein«, sagte ich und tätschelte ihn freundlich. »Das sind alte Wegsteine. Er zeigt eher an, dass wir hier in Sicherheit sind. Grausteine stehen an sicheren Orten. Das weiß doch jeder.«
    Sim schüttelte störrisch den Kopf. »Nein, das sind heidnische Relikte.«
    »Ich wette einen Jot darauf, dass ich recht habe«, erwiderte ich.
    »Abgemacht!« Immer noch auf dem Rücken liegend, reckte Sim eine Hand in die Luft. Ich ging hinüber und schlug ein.
    Dann setzte ich mich neben den Graustein und wollte mich eben entspannen, als ich plötzlich von Panik gepackt wurde. »Beim Leib Gottes!«, stieß ich hervor. »Meine Laute!« Ich versuchte aufzuspringen, aber ich kam nicht richtig hoch und hätte mich dabei beinahe selbst an dem Graustein k.o. geschlagen.
    Simmon versuchte sich aufzusetzen, um mich zu beruhigen, doch die abrupte Bewegung war zu viel für ihn, und er plumpste zur Seite und brach in hilfloses Gelächter aus.
    »Das ist nicht witzig!«, rief

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