Die Furcht des Weisen / Band 1
und gab sich Mühe, nett und harmlos zu erscheinen. Aber das Schweigen hielt an.
Verständlicherweise ärgerte das den alten Mann. Er war es gewöhnt, dass man ihm die kalte Schulter zeigte, aber diese Leute standen einfach nur da. Sie wirkten dabei allerdings ausgesprochen unruhig, traten vom einen Fuß auf den anderen und zuckten nervös mit den Händen.
Als sich der Bettler schon eingeschnappt zurückziehen wollte, flackerte das Feuer auf, und er sah, dass die vier Personen blutrote Kleider trugen, die sie als Adem-Söldner auswiesen. Da ging dem alten Mann ein Licht auf. Die Adem werden auch das stille Volk genannt, und es kommt nur sehr selten vor, dass sie einmal etwas sagen.
Der alte Mann kannte viele Geschichten über die Adem. Er hatte gehört, dass sie über eine geheime Kunst verfügten, die Lethani genannt wurde. Sie ermöglichte es ihnen, ihre Stille wie eine Rüstung zu tragen, die Klingen und Pfeilspitzen zu trotzen vermochte. Deshalb sprachen sie nur so selten. Sie sparten ihre Worte auf, hielten sie in ihrem Innern, wie glühende Kohlen in einem Ofen.
Diese gehorteten Worte erfüllten sie mit einem solchen Übermaß an Energie, dass sie nie ganz still sein konnten, und deshalb zuckten sie immer ein wenig oder nestelten an irgendetwas herum. Doch wenn sie kämpften, nutzten sie ihre geheime Kunst dazu, diese Worte wie einen Treibstoff in sich zu verbrennen. Das machte sie stark wie Bären und flink wie Schlangen.
Als der Bettler zum ersten Mal gerüchteweise davon gehört hatte, hatte er es für den üblichen Unfug gehalten, den man sich abends an einem Lagerfeuer manchmal halt so erzählte. Dann aber hatte er, es war nun einige Jahre her, in Modeg eine Frau der Adem gegen die Stadtwache kämpfen sehen. Die Soldaten waren bis an die Zähne bewaffnet und gut gepanzert gewesen und hatten vor Kraft nur so gestrotzt. Sie hatten im Namen des Königs verlangt, das Schwert der Frau zu sehen, und die Frau hatte es ihnen, wenn auch zögernd, ausgehändigt. Als es sich in ihren Händen befand, hatten sie die Frau lüstern angeschaut und begrapscht und obszöne Vorschläge gemacht, wie sie es wiederbekommen könnte.
|403| Es waren große Männer, bestens gerüstet, und ihre Schwerter waren scharf. Sie aber machte sie nieder wie Weizenhalme im Herbst. Drei von ihnen tötete sie, brach ihnen mit bloßen Händen die Knochen.
Ihre eigenen Verletzungen waren dagegen vergleichsweise gering – eine Prellung an der Wange und eine flache Schnittwunde an der Hand. Noch Jahre später erinnerte sich der alte Mann ganz deutlich daran, wie sie sich mit einer katzenhaften Geste das Blut vom Handrücken geleckt hatte.
Daran dachte der alte Bettler, als er die Adem dort stehen sah. Jeder Gedanke an Essen und Wärme fiel von ihm ab, und er wich langsam in den Schutz der Bäume zurück.
Dann brach er zum nächsten Lagerfeuer auf, in der Hoffnung, beim dritten Versuch mehr Glück zu haben.
Auf dieser Lichtung standen einige Aturer um einen toten Esel herum, der neben einem Karren lag. Als einer von ihnen den alten Mann erblickte, sagte er »Seht mal!« und zeigte auf ihn. »Den schnappen wir uns! Den spannen wir vor den Karren, dann kann er ihn ziehen!«
Der alte Mann lief in den Wald zurück, und nach einigem Hakenschlagen entwischte er den Aturern, indem er sich unter einem moderigen Laubhaufen versteckte.
Als er die Aturer nicht mehr hörte, kroch der Alte unter dem Laub hervor und nahm seinen Wanderstab wieder an sich. Dann brach er mit dem Mut des Armen und Hungrigen zum vierten Lagerfeuer auf, das er in der Ferne sah.
Dort hätte er durchaus finden können, was er suchte, denn an diesem Feuer saßen Händler aus Vintas. Unter anderen Umständen hätten sie ihn vielleicht zum Essen eingeladen und gesagt: »Wovon sechs satt werden, werden auch sieben satt.«
Doch der alte Mann bot mittlerweile einen ziemlich üblen Anblick. Sein Haar stand struppig in alle Himmelsrichtungen ab. Sein ohnehin schon zerlumptes Gewand war nun auch noch zerrissen und schmutzig. Sein Gesicht war bleich vor Angst, und sein Atem ging pfeifend und rasselnd in seiner Brust.
Deshalb erschraken die Vintaner, als sie ihn sahen. Sie glaubten, |404| er sei einer jener Untoten, die einem vintischen Aberglauben zufolge des Nachts umgehen.
Jeder der Vintaner hatte eine andere Idee, wie man ihn aufhalten konnte. Einige meinten, Feuer würde ihn vertreiben, andere wollten Salz verstreuen, um ihn fernzuhalten, und wieder andere glaubten, sie
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