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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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könnten mit eisernen Gegenständen die Bande zerschneiden, die seine Seele an den toten Körper fesselten.
    Als er sie darüber debattieren hörte, wurde dem alten Bettler klar, dass ihm, ganz egal, zu welchem Vorgehen sie sich entschieden, hier nichts Gutes bevorstand. Und so flüchtete er zurück in den schützenden Wald.
    Der alte Mann fand einen großen Stein, auf dem er sich niederließ, und klopfte sich das moderige Laub und den Schmutz ab, so gut es ging. Nachdem er dort eine Zeit lang gesessen hatte, beschloss er, es noch ein letztes Mal an einem weiteren Lagerfeuer zu versuchen, denn er wusste ja, dass er nur auf einen einzigen großzügigen Reisenden treffen musste, um sich den hungrigen Bauch zu füllen.
    Er war froh, als er sah, dass an diesem letzten Lagerfeuer nur ein einzelner Mann saß. Als er näher kam, bemerkte er etwas, das bei ihm ebenso Freude wie Furcht auslöste, denn der Bettler hatte es in seinem langen Leben noch nie mit einem Amyr zu tun gehabt.
    Er wusste jedoch, dass die Amyr zur Tehlanerkirche gehörten, und –
    »
Die gehörten doch nicht zur Kirche«, sagte Wilem.
    »Wie bitte? Aber sicher doch.«
    »Nein, die waren ein Teil des aturischen Staatsapparats. Sie hatten … Vecarum – richterliche Gewalt.«
    »Ihr vollständiger Name war: Der Heilige Orden der Amyr. Und sie waren die starke rechte Hand der Kirche.«
    »Um was wollen wir wetten? Einen Jot?«
    »Gern. Aber nur, wenn du dann für den Rest der Geschichte die Klappe hältst.«
    Der alte Bettler war hocherfreut, denn er wusste, dass die Amyr der Tehlanerkirche angehörten, und die Kirche verteilte oft milde Gaben an die Armen.
    Als der alte Mann näher kam, erhob sich der Amyr. »Wer da?«, |405| fragte er. Seine Stimme klang stolz und kraftvoll, aber auch müde. »Wisset, dass ich dem Orden der Amyr angehöre. Ich lasse nicht zu, dass mich irgendetwas von meinen Aufgaben abhält. Ich diene dem allgemeinen Wohl, selbst wenn sich mir Götter oder Menschen in den Weg stellen.«
    »Sir«, sagte der Bettler. »Ich hoffe lediglich auf einen Platz am Feuer und etwas Mildtätigkeit auf meiner langen Reise.«
    Der Amyr winkte den alten Mann herbei. Er trug eine stählerne Rüstung, und sein Schwert war mannshoch. Sein Wappenrock war leuchtend weiß, doch von den Ellenbogen einwärts ging die Farbe in ein tiefes Rot über, als wäre der Rock in Blut getaucht. Mitten auf der Brust trug er das Emblem der Amyr: einen schwarzen Turm, von lodernden Flammen umzüngelt.
    Der alte Mann nahm Platz und seufzte wohlig, als ihm das Lagerfeuer die Knochen wärmte.
    Nach kurzem Schweigen sagte der Amyr: »Ich kann dir leider nichts zu essen anbieten. Mein Pferd hat heute Abend schon mehr zum Fressen gehabt als ich, was nicht heißen soll, dass es viel bekommen hat.«
    »Ich nehme auch gern mit irgendwelchen Resten vorlieb«, sagte der alte Mann. »Ich bin wirklich nicht wählerisch.«
    Der Amyr seufzte. »Morgen muss ich fünfzig Meilen weit reiten, um einem Gerichtsverfahren Einhalt zu gebieten. Wenn ich zu spät komme und es mir nicht gelingt, wird eine unschuldige Frau gehenkt. Das ist alles, was ich habe.« Er deutete auf ein Tuch, auf dem ein Brotkanten und ein Stückchen Käse lagen. Beides zusammen hätte kaum etwas gegen den Hunger des alten Mannes auszurichten vermocht. Für einen Hünen wie den Amyr war es ein ausgesprochen kärgliches Mahl.
    »Ich muss morgen reiten und kämpfen«, sagte der Ritter. »Ich brauche meine Kraft. Also muss ich deinen Hunger des heutigen Abends gegen das Leben dieser Frau abwägen.« Und als er das sagte, hob der Amyr die Hände, die Handteller nach oben, und bewegte sie wie Waagschalen.
    Dabei erblickte der alte Bettler auch seine Handrücken, und einen Moment lang glaubte er, der Amyr habe sich geschnitten, und Blut |406| liefe ihm von den Fingern aus die Arme hinab. Doch dann flackerte das Feuer, und der Bettler sah, dass es sich nur um Tätowierungen handelte. Dennoch schauderte ihm beim Anblick der blutroten Muster auf den Händen und Armen des Amyr.
    Ihm hätte nicht nur geschaudert, wenn er gewusst hätte, was diese Muster zu bedeuten hatten. Sie zeigten an, dass der Orden der Amyr diesem Mann so unumschränkt vertraute, dass er keine seiner Taten jemals in Frage stellen würde – und dass, da der Orden hinter ihm stand, keine Kirche, kein Fürstenhof, kein König jemals etwas gegen ihn unternehmen konnten. Denn er zählte zu den Ciridae, dem höchsten Rang der Amyr.
    Tötete er einen unbewaffneten

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