Die Furcht des Weisen / Band 1
Aufgabe nicht gewachsen. »Wir |395| sind ganz normale Menschen«, sagte ich. »Außer dass wir nicht sehr lange am selben Ort bleiben und alle uns hassen.«
Wir drei betrachteten wieder schweigend die Sterne.
»Hat sie ihn wirklich dazu verdonnert, unter dem Wagen zu schlafen?«, fragte Simmon schließlich.
»Wie bitte?«
»Du hast gesagt, deine Mutter hätte deinen Vater dazu verdonnert, unter dem Wagen zu schlafen, wenn er die Strophe mit dem Schaf gesungen hat. Stimmt das wirklich?«
»Das ist mehr so eine Redewendung«, erwiderte ich. »Aber einmal hat sie es tatsächlich getan.«
Ich dachte nicht oft an meine Kindheit und Jugend bei meiner Truppe, damals, als meine Eltern noch am Leben waren. Ich mied diese Erinnerung, wie ein Krüppel lernt, sein versehrtes Bein nicht zu belasten. Aber Simmons Frage rief mir eine bestimmte Begebenheit wieder ins Bewusstsein.
»Aber das war nicht, weil er
Tinker Tanner
gesungen hatte«, hörte ich mich sagen. »Sondern ein Lied, das er über sie geschrieben hatte …«
Einen Moment lang war es still. Dann sprach ich es aus. »Laurian.«
Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich den Namen meiner Mutter aussprach. Das erste Mal, seit sie ermordet worden war. Es war ein seltsames Gefühl in meinem Mund.
Und dann, ohne dass ich es eigentlich gewollt hatte, begann ich zu singen:
Die dunkle Laurian, Arlidens Frau,
Hat ein Gesicht wie ein Messer genau.
Ihre Stimme, die krächzt und schnarrt sehr,
Doch sie kann rechnen wie ein Wucherer.
Kochen kann meine Rechenfee nicht,
Doch das Haushaltsbuch führt sie ordentlich.
Trotz ihrer Fehler ist es so, dass
Ich nie im Leben
In meinem Streben
Zu lieben locker lass …
|396| Ich fühlte mich ganz merkwürdig, wie losgelöst von meinem eigenen Körper. Und seltsamerweise war diese Erinnerung, so klar und deutlich sie auch war, gar nicht schmerzhaft.
»Ich verstehe schon, dass man sich mit so was einen Schlafplatz unterm Wagen einhandeln kann«, sagte Wilem in ernstem Tonfall.
»Das war es gar nicht«, hörte ich mich sagen. »Sie war sehr schön, und das wussten sie beide. Die beiden haben sich ständig gefoppt und geneckt. Es war das Versmaß. Sie konnte dieses scheußliche Versmaß nicht ausstehen.«
Ich sprach sonst nie über meine Eltern, und in der Vergangenheitsform über sie zu sprechen fühlte sich ungut an. Treulos, illoyal. Wil und Sim waren über diese Enthüllung nicht erstaunt. Jedem, der mich kannte, musste klar sein, dass ich keine Eltern mehr hatte. Ich hatte mit ihnen nie darüber gesprochen, aber sie waren gute Freunde. Sie wussten es auch so.
»Bei uns in Atur schlafen die Männer im Hundezwinger, wenn ihre Frauen wütend sind«, sagte Simmon und lenkte das Gespräch damit wieder in sichereres Fahrwasser.
»
Melosi rehu eda Stiti
«, murmelte Wilem.
»Aturisch bitte!«, rief Simmon vergnügt. »Ich hab erst mal genug von diesem Eseltreiber-Kauderwelsch.«
»
Eda Stiti
?«, wiederholte ich. »Ihr schlaft beim Feuer?«
Wilem nickte.
»Ich lege hiermit offiziell Protest dagegen ein, wie schnell du Siaru gelernt hast«, sagte Simmon und reckte einen Zeigefinger empor. »Ich hab das ein Jahr lang studiert, bevor ich auch nur ein bisschen was verstanden habe. Ein Jahr! Und dir fliegt das in einem Trimester mal eben so zu!«
»Ich hab schon als kleiner Junge einiges davon gelernt«, sagte ich. »Und dieses Trimester hab ich mir gewissermaßen nur noch die Feinheiten angeeignet.«
»Dein Akzent hat sich gebessert«, sagte Wil zu Sim. »Kvothe hört sich an wie ein fahrender Händler aus dem Süden. Ziemlich ungehobelt. Du hingegen klingst viel vornehmer.«
Das schien Simmon zu besänftigen. »Sie schlafen beim Feuer«, |397| sagte er noch mal. »Kommt es euch nicht komisch vor, dass es immer die Männer sind, die woanders schlafen müssen?«
»Es ist ja wohl ziemlich offensichtlich, dass die Frauen über das Bett herrschen«, sagte ich.
»Kein unangenehmer Gedanke«, sagte Wil. »Kommt allerdings auf die Frau an.«
»Distrel ist hübsch«, sagte Sim.
»
Keh «
, sagte Wil. »Zu blass. Fela.«
Simmon schüttelte traurig den Kopf. »An die kommt unsereiner nicht ran. Die ist einfach zu schön.«
»Sie ist Modeganerin«, sagte Wilem und grinste dabei so breit, dass es fast schon dämonisch wirkte.
»Tatsächlich?«, fragte Sim. Wil nickte und zeigte immer noch das breiteste Lächeln, das ich je beim ihm gesehen hatte. Sim seufzte erbarmungswürdig. »Das passt. Es ist schon schlimm genug,
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