Die Furcht des Weisen / Band 1
gibt einen Ort, den nur wenige Menschen je gesehen haben, einen fremdartigen Ort namens Faeriniel. Wenn man den Geschichten glauben kann, gibt es zwei Dinge, die Faeriniel zu etwas Besonderem machen. Erstens: Es ist der Ort, an dem sich alle Straßen der Welt kreuzen. Und zweitens: Kein Mensch hat diesen Ort je durch Suchen gefunden. Es ist kein Ort, zu dem man reist, sondern ein Ort, den man auf dem Weg nach einem anderen durchquert.
Man sagt, dass jeder, der sich lange genug auf Reisen begibt, eines Tages dort durchkommen wird. Dies ist eine Geschichte, die an diesem Ort spielt, eine Geschichte über einen alten Mann, der auf einer langen Straße unterwegs ist, und es ist die Geschichte einer langen, einsamen, mondlosen Nacht …«
|400| Kapitel 37
Ein Platz am Feuer
F aeriniel war eine bedeutende Wegkreuzung, aber es gab dort keine Gasthäuser. Stattdessen gab es etliche Lichtungen im Wald ringsumher, auf denen die Reisenden ihr Lager für die Nacht aufschlugen.
Es war einmal, vor langer Zeit, da kamen fünf verschiedene Gruppen Reisender nach Faeriniel. Als die Sonne unterzugehen begann, suchten sie sich jeweils eine Lichtung aus und entfachten dort ein Lagerfeuer.
Später, lange nach Sonnenuntergang, und als die Nacht am Himmel aufgezogen war, kam ein alter Bettler in zerlumptem Gewand die Straße herab. Er ging langsam und stützte sich auf einen Stab.
Der alte Mann ging von Nirgendwoher nach Nirgendwohin. Er hatte weder eine Kopfbedeckung noch Gepäck. Er besaß keinen Penny und hätte auch gar keinen Geldbeutel gehabt, um ihn hineinzutun. Er besaß gerade noch seinen Namen, doch auch der erschien ihm nach all den Jahren abgenutzt.
Wenn man ihn gefragt hätte, wer er sei, hätte er geantwortet: »Niemand«. Doch das wäre nicht wahr gewesen.
Der alte Mann kam nun nach Faeriniel. Er war hungrig wie ein Wolf und vollkommen erschöpft. Das Einzige, was ihn noch in Bewegung hielt, war die Hoffnung, dass ihm jemand ein wenig von seinem Abendessen abgeben und einen Platz an seinem Lagerfeuer anbieten würde.
Als der alte Mann daher Feuerschein im Wald gewahrte, ließ er die Straße hinter sich und ging erschöpft und müde darauf zu. Bald sah er zwischen den Bäumen vier große Pferde stehen. Ihr Geschirr |401| war mit Silber überzogen, und auch in das Eisen ihrer Hufbeschläge war Silber gemischt. Neben ihnen sah der Bettler ein Dutzend Maultiere, die hoch mit Handelsgütern beladen waren – mit Wollkleidern, Schmuck und Stahlklingen.
Doch am meisten fesselte die Aufmerksamkeit des Bettlers der große Braten über dem Lagerfeuer, der dampfte und von dem Fett ins Feuer troff. Der alte Mann wäre beinahe ohnmächtig geworden, als er den köstlichen Bratenduft roch, denn er war den ganzen Tag gewandert und hatte dabei weiter nichts gegessen als eine Hand voll Eicheln und einen angestoßenen Apfel, den er am Wegesrand gefunden hatte.
Als er die Lichtung betrat, entbot er den drei dunklen, bärtigen Männern, die am Feuer saßen, einen Gruß und fragte: »Habt ihr wohl ein Stück Fleisch für mich, und darf ich mich ein wenig an eurem Feuer wärmen?«
Sie wandten sich zu ihm um, und ihre Goldketten funkelten im Feuerschein. »Aber gewiss doch«, sagte ihr Anführer. »Was hast du denn bei dir? Bits oder Pennys? Ringe oder Strehlaum? Oder etwa kealdische Münze, letztlich das einzig Wahre, unsere Lieblings-Währung überhaupt?«
»Nichts dergleichen«, erwiderte der alte Bettler und hielt ihnen die Handflächen hin, um zu zeigen, dass er mit leeren Händen kam.
»Dann können wir leider nichts für dich tun«, sagte der Anführer, und noch während der Bettler zusah, begannen sie, sich dicke Scheiben von dem Braten herunterzuschneiden, der über dem Feuer hing.
»Bitte nicht übel nehmen, Wilem. So geht diese Geschichte nun mal.«
»Ich hab doch gar nichts gesagt.«
»Du sahst aber so aus, als würdest du gleich was sagen.«
»Mag sein. Aber ich warte, bis du mit der Geschichte fertig bist.«
Der alte Mann ging weiter und folgte dem Lichtschein durch den Wald zu einem anderen Lagerfeuer.
»Hallo!«, rief der alte Bettler, als er die zweite Lichtung betrat. Obwohl er so erschöpft war, versuchte er fröhlich zu klingen. »Habt ihr wohl ein Stück Fleisch für mich, und darf ich mich ein wenig an euer Feuer setzen?«
An diesem Lagerfeuer saßen vier Reisende – zwei Männer und |402| zwei Frauen. Als sie seine Stimme hörten, erhoben sie sich, sagten aber kein Wort. Der alte Mann wartete höflich ab
Weitere Kostenlose Bücher