Die Furcht des Weisen / Band 1
Mann, so war es aus der Sicht des Ordens kein Mord. Erwürgte er mitten auf der Straße eine schwangere Frau, so würde niemand etwas dagegen einwenden. Brannte er eine Kirche nieder oder zerstörte er eine alte Steinbrücke, so würde das Reich es ihm nicht zur Last legen, in dem Vertrauen darauf, dass alle seine Taten einem übergeordneten Wohl dienten.
Doch davon wusste der Bettler nichts, und daher versuchte er es erneut. »Wenn Ihr kein Essen übrig habt, dürfte ich Euch dann um ein oder zwei Penny bitten?« Er dachte dabei an das Lager der Kealden und dass er sich dort vielleicht ein Stück Fleisch oder ein wenig Brot kaufen konnte.
Doch der Amyr schüttelte den Kopf. »Wenn ich Geld hätte, würde ich dir gerne etwas geben. Aber ich habe mein letztes Geld vor drei Tagen einem Mann gegeben, der gerade Witwer geworden ist und ein kleines Kind zu versorgen hat. Seither bin ich ebenso mittellos wie du.« Er schüttelte den Kopf, und seinem Gesicht war die Erschöpfung und das Bedauern anzusehen. »Ich wünschte, die Umstände wären andere. Doch nun muss ich schlafen. Also geh jetzt bitte.«
Der alte Mann war ganz und gar nicht zufrieden mit dem Ausgang dieses Gesprächs, doch etwas an der Stimme des Amyr hieß ihn, sich in Acht zu nehmen. Und so erhob er sich mühsam und ließ auch dieses Lagerfeuer hinter sich zurück.
Und noch bevor die Wärme des letzten Lagerfeuers wieder ganz von ihm gewichen war, schnürte der alte Mann den Gürtel enger und beschloss, einfach bis zum Morgen weiterzuwandern. Er hoffte, |407| weiter die Straße hinab mehr Glück zu haben oder wenigstens auf freundlichere Leute zu treffen.
Und so ging er durch das Zentrum von Faeriniel, und dabei sah er einige große, graue Steine, die in einem Kreis umeinander standen. Innerhalb dieses Kreises war das schwache Glimmen eines Feuers zu sehen, das dank einer tiefen Feuergrube gut verborgen war. Dem alten Mann fiel auf, dass er gar keinen Rauch bemerkte, und er nahm an, dass man dort Rennel-Holz verbrannte, das zwar heiß und lang anhaltend brennt, dabei aber keinerlei Rauch oder Geruch abgibt.
Dann sah der alte Mann, dass zwei der großen Umrisse, die er für Steine gehalten hatte, in Wirklichkeit Wagen waren. Rings um das Feuer, über dem ein Kochtopf hing, saßen eine Handvoll Personen.
Doch der alte Mann hatte mittlerweile alle Hoffnung aufgegeben, und so ging er weiter. Er war schon fast an den Steinen vorbei, als jemand rief: »Heda! Wer bist du, und warum schleichst du hier durch die Nacht?«
»Niemand«, sagte der alte Mann. »Ich bin nur ein alter Bettler und gehe meinen Weg bis an sein Ende.«
»Weshalb wanderst du, statt dich zum Schlafen niederzulegen? Diese Straßen sind nachts nicht sicher«, erwiderte die Stimme.
»Ich habe keinen Schlafplatz«, sagte der alte Mann. »Es ist mir heute Abend einfach nicht gelungen, einen zu erbetteln.«
»Hier hast du einen, wenn du magst. Und auch ein kleines Nachtmahl, wenn du dich noch ein wenig mit uns unterhältst. Niemand sollte den ganzen Tag und die ganze Nacht wandern müssen.« Und damit trat ein gut aussehender, bärtiger Mann hinter einem der großen, grauen Steine hervor. Er nahm den alten Mann beim Ellenbogen, führte ihn zum Feuer und rief: »Wir haben einen Gast!«
Vor ihnen regte sich etwas, der leise Hauch einer Bewegung, doch da es eine mondlose Nacht war und das Feuer tief in der Grube brannte, konnte der Bettler nicht allzu viel von dem erkennen, was da vor sich ging. Neugierig geworden, fragte er: »Wieso verbergt ihr euer Feuer?«
Sein Gastgeber seufzte. »Nicht jeder hier ist uns wohlgesonnen. Wir sind am sichersten, wenn wir uns unauffällig verhalten. Außerdem ist unser Feuer heute Abend ohnehin nur klein.«
|408| »Warum das?«, fragte der Bettler. »Bei so viel Wald müsste Brennholz doch leicht zu beschaffen sein.«
»Wir waren vorhin auch welches sammeln«, erwiderte der bärtige Mann. »Aber dann wurden wir als Diebe beschimpft und mit Pfeilen beschossen.« Er zuckte die Achseln. »Daher behelfen wir uns anderweitig, und morgen ist dann wieder ein neuer Tag.« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich rede zu viel. Darf ich dir etwas zu trinken anbieten, Väterchen?«
»Einen Schluck Wasser, wenn ihr welches entbehren könnt.«
»Nichts da, du bekommst Wein.«
Es war lange her, dass der Bettler auch nur einen Schluck Wein getrunken hatte, und schon allein bei dem Gedanken lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Er wusste aber auch, dass Weingenuss auf
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