Die Furcht des Weisen / Band 1
Schwachkopf. Verhalte dich einfach so, wie du dich anderen Leuten gegenüber auch verhältst.«
»Bloß eben höflich«, erwiderte ich sarkastisch, denn seine Litanei von Ratschlägen ging mir allmählich auf die Nerven.
»Genau«, sagte Simmon ganz ernsthaft.
»Wo gehen wir denn überhaupt hin?«, fragte ich, hauptsächlich, um Simmons Gluckengehabe zu unterbinden.
»Ins dritte Untergeschoss«, sagte Wilem, bog um eine Ecke und begann eine lange Treppe hinabzusteigen. Die grauen Steinstufen waren von unzähligen Jahren des Gebrauchs so abgenutzt, dass sie sich wie schwer beladene Regale zu biegen schienen. Von oben und im Halbdunkel wirkten die Stufen glatt und kantenlos, wie ein aus dem Fels gewaschenes, ausgetrocknetes Bachbett.
»Und ihr seid sicher, dass er da ist?«
»Er ist immer da. Er verlässt seine Gemächer nicht allzu oft.«
»Gemächer?«, fragte ich. »Er
wohnt
da?«
Keiner der beiden erwiderte etwas. Sie sahen nur auf ihre Füße, die vorsichtig eine Stufe nach der anderen nahmen. Das schien Antwort genug zu sein.
Wilem führte uns eine weitere, kurze Treppe hinab und dann |423| einen langen, breiten, niedrigen Korridor entlang. Schließlich kamen wir zu einer unscheinbaren Tür, die in einer Ecke kaum zu sehen war. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich angenommen, dass sich dahinter einer der unzähligen kleinen Leseräume befand, die es über die ganze Bibliothek verstreut gab.
»Mach einfach bloß nichts, was ihn aufregen würde«, sagte Simmon nervös.
Ich setzte mein höflichstes Gesicht auf, und Wilem klopfte an die Tür. Nach dem zweiten Klopfen bewegte sich die Klinke. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit und wurde dann ganz aufgerissen. Puppet stand im Türrahmen, größer als wir drei. Die Ärmel seines schwarzen Gewands bauschten sich auf dramatische Weise im Luftzug der aufgerissenen Tür.
Er starrte uns einen Moment lang mit hochmütiger Miene an, guckte dann verdutzt und fasste sich an den Kopf. »Augenblick mal, ich hab meine Kapuze vergessen«, sagte er und trat die Tür wieder zu.
So seltsam dieser kurze Auftritt auch gewesen war, hatte ich doch etwas noch Befremdlicheres bemerkt. »Beim verkohlten Leib Gottes«, flüsterte ich. »Er hat ja brennende Kerzen da drin. Weiß Lorren davon?«
Simmon hatte den Mund schon zu einer Antwort geöffnet, als die Tür erneut aufgerissen wurde. Puppet stand wieder im Türrahmen, sein dunkles Gewand in markantem Kontrast zu dem warmen Kerzenschein dahinter. Nun trug er eine Kapuze und hielt die Arme erhoben. Die langen Ärmel seines Gewands bauschten sich eindrucksvoll im Luftzug. Doch eben dieser Luftzug erfasste auch seine Kapuze und wehte sie ihm fast vom Kopf.
»Mist«, murmelte er. Die Kapuze rutschte wieder herab, allerdings schief, und hing ihm nun über ein Auge. Erneut knallte er die Tür zu.
Wilem und Simmon verzogen keine Miene. Ich ließ mir ebenfalls nichts anmerken und verkniff mir jeglichen Kommentar.
Einen Moment lang war es still. Schließlich kam es dumpf durch die Tür: »Klopft ihr bitte noch mal an? Sonst wirkt das irgendwie nicht echt.«
Wilem trat gehorsam vor und pochte an die Tür. Einmal, zweimal – dann wurde sie aufgerissen, und vor uns stand eine hoch aufragende, |424| dunkel gewandete Gestalt. Ihr Gesicht war von der kuttenartigen Kapuze verschattet, und die langen Ärmel ihres Gewands bauschten sich im Luftzug.
»Wer wagt es, Taborlin den Großen zu stören?«, intonierte Puppet mit volltönender, von der tiefen Kapuze jedoch ein wenig gedämpfter Stimme. Er streckte mit theatralischer Geste eine Hand aus. »Du! Simmon!« Es entstand eine Pause, und seine Stimme verlor ihren dramatischen Klang. »Dich hab ich doch heute schon mal gesehen, oder?«
Simmon nickte. Ich spürte, wie er das Lachen, das fast aus ihm herausbrach, in sich niederkämpfte.
»Wie lange ist das her?«
»Eine Stunde etwa.«
»Hmmm.« Die Kapuze nickte. »War ich diesmal besser?« Puppet hob eine Hand, um die Kapuze abzunehmen, und da sah ich, dass ihm das Gewand viel zu groß war, die Ärmel gingen ihm fast bis zu den Fingerspitzen. Als sein Gesicht aus dem Kapuzenschatten hervorkam, sah ich, dass er grinste wie ein kleiner Junge, der, um sich zu verkleiden, den Kleiderschrank seiner Eltern geplündert hat.
»Vorhin warst du aber nicht Taborlin«, merkte Simmon an.
»Oh.« Puppet reagierte ein wenig pikiert. »Und wie war ich? Ich meine: diesmal? War ich gut als Taborlin?«
»Ziemlich gut«, sagte
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