Die Furcht des Weisen / Band 1
fast als würde sie sich nach langem Schlaf strecken.
»Das sagt mir nichts.«
|429| Puppet erwiderte mit geistesabwesender Stimme: »Erstes Obergeschoss, Südostecke. Zweite Reihe, zweites Regal, drittes Brett von oben, rechte Seite, roter Ledereinband.« Der kleine Tehlanerpriester schritt langsam um Puppets Füße herum. In einer Hand hielt er das
Buch des Weges
in Miniaturnachbildung, absolut detailgetreu, bis hin zu dem winzigen Speichenrad-Signet auf dem Einband. Wir drei sahen zu, wie Puppet den kleinen Priester an den Fäden führte und ihn hin und her gehen ließ, ehe er sich dann schließlich auf einen von Puppets bestrumpften Füßen setzte.
Wilem räusperte sich respektvoll. »Puppet?«
»Ja«, erwiderte der, ohne von seinen Füßen hochzublicken. »Du hast eine Frage. Oder vielmehr: Kvothe hat eine Frage, und du willst sie für ihn stellen. Er sitzt leicht vorgebeugt, und die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen und das leichte Schürzen seiner Lippen lassen das erkennen. Lass ihn die Frage selber an mich richten. Es könnte förderlich für ihn sein.«
Ich erstarrte und fühlte mich ertappt: Es war genau, wie er sagte. Einen Moment lang saß ich regungslos da und versuchte mich zu entsinnen, wie man es anstellt, entspannt und locker auf einem Stuhl zu sitzen. Puppet zog weiterhin die Fäden seines kleinen Tehlaners. Der suchte sorgfältig, fast schon ängstlich die Umgebung der Füße ab und fuchtelte dabei mit dem Buch. Anschließend marschierte er um die Tischbeine herum und stieg in Puppets ausgezogene Schuhe hinein. Die Bewegungen wirkten verblüffend natürlich und lenkten mich so weit ab, dass ich meine Verlegenheit vergaß und meine Befangenheit schwand.
»Ja, stimmt, ich hätte eine Frage zu den Amyr.« Mein Blick blieb auf die Szene gerichtet, die sich zu Puppets Füßen abspielte. Eine weitere Marionette hatte die Bühne betreten, ein junges Mädchen in bäuerlichem Gewand. Sie ging auf den Tehlaner zu und streckte ihm eine Hand entgegen, so als wollte sie ihm etwas geben. Ach nein, sie stellte ihm eine Frage. Der Tehlaner kehrte ihr den Rücken zu. Sie legte ihm zaghaft eine Hand auf den Arm. Er trat hochmütig einen Schritt zur Seite. »Ich wüsste gern, wer sie aufgelöst hat: Kaiser Nalto oder die Kirche?«
»Du guckst immer noch«, tadelte er, jedoch milder als zuvor. |430| »Du musst noch eine Weile dem Wind nachjagen, du bist noch viel zu ernst. Das wird dich in Schwierigkeiten bringen.« Der Tehlaner wandte sich abrupt zu dem Mädchen um. Zornbebend drohte er ihr mit dem Buch. Sie wich erschrocken einen Schritt zurück und fiel auf die Knie. »Es war natürlich die Kirche, die sie aufgelöst hat. Nur ein Edikt des Pontifex konnte ihnen etwas anhaben.« Der Tehlaner schlug mit dem Buch nach dem Mädchen. Er schlug noch einmal zu und noch einmal, bis sie reglos am Boden lag. »Nalto hätte ihnen nicht mal befehlen können, die Straßenseite zu wechseln.«
Eine leichte Regung zog Puppets Aufmerksamkeit auf sich. »Ach du je«, sagte er und blickte Wilem schräg von unten an. »Seht, was ich sehe. Der Kopf ist leicht geneigt. Die Kiefermuskulatur ist in einer Geste der Verärgerung angespannt, aber der Blick zielt auf nichts Bestimmtes, und daher richtet sich der Ärger nach innen. Wenn ich ein Mensch wäre, der nach dem Augenschein urteilt, würde ich annehmen, dass Wilem soeben eine Wette verloren hat. Aber weißt du denn nicht, dass Tehlu und die Kirche das Wetten missbilligen?« Der Priester zu Puppets Füßen fuchtelte drohend mit dem Buch zu Wilem hinauf.
Dann faltete der Tehlaner die Hände und wandte sich von dem am Boden liegenden Mädchen ab. Er ging langsam ein paar Schritte von ihr fort, den Kopf wie im Gebet gesenkt.
Ich schaffte es, meine Aufmerksamkeit von dieser Szene zu lösen. »Puppet«, sagte ich und sah ihn an, »hast du die
Geschichtlichen Betrachtungen
von Feltemi Reis gelesen?«
Ich sah, dass Simmon Wilem einen besorgten Blick zuwarf. Puppet schien sich jedoch nicht an der Frage zu stören. Der Tehlaner zu seinen Füßen hob den Kopf und begann nun zu tanzen und Luftsprünge zu vollführen. »Ja.«
»Wieso behauptet Reis, dass das
Alpura Prolycia Amyr
das dreiundsechzigste Dekret Kaiser Naltos gewesen sei?«
»So etwas würde Reis nie behaupten«, erwiderte Puppet, ohne von der Marionette aufzublicken. »Das ist doch Quatsch.«
»Wir haben aber ein Exemplar der
Betrachtungen
entdeckt, in dem das wortwörtlich steht«, entgegnete ich.
|431| Puppet
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