Die Furcht des Weisen / Band 1
psychischen Zusammenbrüchen, sondern die Betreffenden tragen vielmehr einen Knacks davon. So ein Knacks kann sich in Kleinigkeiten äußern: in nervösen Gesichtzuckungen oder einem Stottern. Manche hören Stimme, andere werden vergesslich, erblinden oder verstummen … Manchmal hält das nur eine Stunde oder einen Tag lang an. Manchmal aber wird es zu einem Dauerzustand.
|427| Ich nahm an, dass Puppet ein Student war, der viele Jahre zuvor einen Knacks abgekriegt hatte. Es war nicht schlimm genug, um ihn ins Refugium einzuweisen, aber doch so schwerwiegend, dass er nirgends sonst mehr tätig sein konnte. Wie Auri schien er hier eine Nische für sich gefunden zu haben, auch wenn ich mich sehr wunderte, dass Lorren ihn hier unten wohnen ließ.
»Guckt der immer so?«, fragte Puppet Wilem und Simmon. Unter seinen Händen hatte sich schon ein Holzspanhäufchen gebildet.
»Meistens«, sagte Wilem.
»Wie guckt er denn?«, fragte Simmon.
»Als hätte er bei einer Partie Tirani gerade seine nächsten drei Züge durchdacht und wüsste ganz genau, wie er einen schlagen könnte.« Puppet sah mir noch einmal lange ins Gesicht und schnitzte dann einen weiteren dünnen Holzstreifen fort. »Das ist wirklich ziemlich irritierend.«
Sie reckten beide den Kopf vor, um mich besser in den Blick zu bekommen. Wilem lachte bellend. »Das ist seine Denkermiene, Puppet. Die setzt er oft auf, aber nicht immer.«
»Was ist denn Tirani?«, fragte Simmon.
»Ein Denker, soso«, sagte Puppet. »Was denkst du denn gerade?«
»Ich denke, dass du offenbar ein sehr sorgfältiger Menschenbeobachter bist«, erwiderte ich höflich.
Puppet schnaubte, ohne den Blick zu heben. »Was nützt denn Sorgfalt beim Beobachten? Und was nützt Beobachten denn überhaupt? Die Leute beobachten ständig irgendetwas. Sie sollten lieber lernen, die Dinge zu
sehen
! Ich
sehe
, was ich angucke. Ich bin ein Sehender.«
Er betrachtete das Holzstück in seiner Hand und dann mein Gesicht. Sichtlich mit sich zufrieden, faltete er die Hände über der Schnitzerei – doch da hatte ich bereits einen Blick auf mein kunstvoll aus dem Holz herausgearbeitetes Profil erhascht. »Weißt du, was du einst warst, jetzt nicht bist und einmal wieder sein wirst?«, fragte er in sachlichem Ton.
Es klang wie ein Rätsel. »Nein.«
»Ein Sehender«, sagte er mit Bestimmtheit. »Denn das ist es, was E’lir bedeutet.«
|428| »Kvothe ist ein Re’lar«, sagte Simmon respektvoll. Er berichtigte Puppet nicht, sondern erwähnte es nur.
Puppet schnaubte verächtlich. »Wohl kaum. Er mag es dem Rang nach sein, aber ihm fehlt dazu die Begabung«, sagte er und sah mich an. »Du könntest ein Sehender werden, aber noch bist du es nicht. Noch bist du ein Guckender. Eines Tages wirst du ein wahrer E’lir sein. Falls du lernst, dich zu entspannen.« Er hielt mir das geschnitzte Holzgesicht hin. »Was siehst du hier?«
Es war nun kein unregelmäßig geformtes Holzklötzchen mehr. Meine Gesichtszüge, in ernste Gedanken versunken, schauten aus der Maserung hervor. Ich beugte mich vor, um es mir genauer anzusehen. »Nun ja …«
Puppet lachte und riss die Hände hoch. »Zu spät!«, rief er und wirkte für einen Moment wieder wie ein kleiner Junge. »Du hast zu angestrengt geguckt und deshalb nicht genug gesehen. Zu viel Gucken kann beim Sehen hindern – da hast du’s!«
Puppet stellte das geschnitzte Gesicht so auf dem Tisch ab, dass es eine der dort liegenden Marionetten anzuschauen schien. »Siehst du den kleinen Holz-Kvothe? Siehst du, wie er guckt? So angespannt! So konzentriert! Er könnte hundert Jahre lang so gucken, aber wird er jemals sehen, was er vor sich hat?« Puppet setzte sich wieder und ließ den Blick zufrieden durch den Raum schweifen.
»E’lir bedeutet Sehender?«, fragte Simmon. »Haben die anderen Rangbezeichnungen denn auch eine Bedeutung?«
»Als Student mit unbeschränktem Zugang zur Bibliothek kannst du das doch wohl selber herausfinden«, sagte Puppet. Seine Aufmerksamkeit richtete sich nun auf eine Marionette, die vor ihm auf dem Tisch lag. Er ließ sie auf den Fußboden hinab, behutsam, um ihre Fäden nicht zu verwirren. Sie war die perfekte Miniaturnachbildung eines grau gewandeten Tehlanerpriesters.
»Könntest du uns einen Tipp geben, wo wir bei diesen Nachforschungen beginnen sollten?«, fragte ich, einer Eingebung folgend.
»
Renfalques Diktum
.« Von Puppet geführt, erhob sich die Tehlanerpuppe vom Boden und bewegte nacheinander Arme und Beine,
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