Die Furcht des Weisen / Band 1
Nachtschwalbe schläft zwar, wenn die Sonne scheint, aber trotzdem flogen auf Jax’ Triller hin ein Dutzend Nachtschwalben herbei, landeten auf dem Boden und betrachteten Jax, von der Sonne geblendet, neugierig.
»Das ist offenbar keine gewöhnliche Flöte«, sagte der Alte.
»Und das Kästchen?« Jax hob es hoch. Es war schwarz und kalt und so klein, dass er es mit der Hand umschließen konnte.
Der Alte erschauerte und wandte den Blick ab. »Es ist leer.«
»Woher weißt du das, wenn du nicht hineinsehen kannst?«
»Weil ich es höre. Mich wundert, dass du es nicht hörst. Ich habe noch nie eine solche Leere gehört. Voller Echos! Das Kästchen ist dazu da, Dinge aufzubewahren.«
»Dazu sind alle Kästchen da.«
»Und alle Flöten sollen schöne Musik spielen«, erwiderte der Alte. »Aber diese Flöte spielt besonders schön. Genau so ist es mit dem Kästchen.«
Jax betrachtete das Kästchen noch einen Moment, dann packte er es zusammen mit den anderen Dingen wieder ein. »Ich denke, ich werde weiterziehen«, sagte er.
»Willst du nicht ein, zwei Monate bleiben?«, fragte der Alte. »Du könntest lernen, ein wenig genauer zuzuhören. Es ist sehr nützlich, das zu können.«
»Du hast einiges gesagt, worüber ich nachdenken muss. Und ich glaube, du hast recht, ich sollte nicht Luna nachstellen, sondern dafür sorgen, dass sie zu mir kommt.«
»Ich habe das nicht so gesagt«, murmelte der Alte, aber er klang resigniert. Als erfahrener Hörer wusste er, dass Jax ihm nicht zugehört hatte.
Am nächsten Morgen brach Jax wieder auf. Er folgte Luna immer |826| höher ins Gebirge hinauf und gelangte schließlich auf eine Hochebene unmittelbar unter den höchsten Gipfeln.
Dort holte er das gebogene Stück Holz aus seinem Ranzen und begann das Haus aufzufalten. Er hatte die ganze Nacht vor sich und wollte fertig sein, bevor Luna aufging.
Doch das Haus was viel größer, als er gedacht hatte, eher ein Schloss als ein Haus. Außerdem bereitete ihm das Auffalten mehr Schwierigkeiten als erwartet. Jedenfalls war er noch keineswegs fertig, als Luna bereits hoch am Himmel stand.
Vielleicht nahm er sich deshalb nicht genügend Zeit oder er arbeitete nicht sorgfältig genug. Vielleicht hatte er auch nur wie immer Pech.
Das Ergebnis war jedenfalls dasselbe: So groß und prächtig das Haus war, nichts passte richtig zusammen. Treppen führten zur Seite statt nach oben, einige Zimmer hatten zu wenige Wände, andere zu viele. Viele hatten keine Decke und man blickte stattdessen in einen sonderbaren Himmel voller unbekannter Sterne.
Alles war irgendwie durcheinander gekommen. Durch das Fenster des einen Zimmers sah man Frühlingsblumen, die Fenster auf der anderen Seite des Flurs waren von winterlichem Frost vereist. Und während es im Ballsaal Zeit zum Frühstück war, dämmerte in einem nahen Schlafzimmer gerade der Abend.
Weil in dem Haus nichts stimmte, passten auch Türen und Fenster nicht. Man konnte sie zwar zumachen und sogar abschließen, aber sie gingen trotzdem wieder auf. Und aufgrund seiner Größe hatte das Haus viele Türen und Fenster und entsprechend viele Ein- und Ausgänge.
Jax interessierte das alles nicht. Stattdessen eilte er sofort auf den höchsten Turm und setzte die Flöte an die Lippen.
Lieblich tönte sein Spiel durch die klare Nacht. Er zwitscherte nicht nur wie ein Vogel, sondern spielte aus der Tiefe seines gebrochenen Herzens. Die Melodie war eindringlich und traurig zugleich. Sie flatterte wie ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel.
Luna hörte sie und kam zum Turm herunter. Bleich und rund hing sie in ihrer ganzen Pracht über Jax, und Jax spürte zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Freude.
|827| Sie sprachen auf dem Turm miteinander. Jax erzählte ihr von seinem Leben, seiner Wette und seiner langen, einsamen Reise. Sie hörte ihm zu und lachte und lächelte.
Doch nach einer Weile blickte sie sehnsüchtig zum Himmel auf.
Jax wusste, was das bedeutete. »Bleibe bei mir«, bat er. »Ich bin nur glücklich, wenn du mir gehörst.«
»Ich muss gehen«, erwiderte Luna. »Mein Zuhause ist der Himmel.«
»Aber ich habe ein Haus für dich gebaut.« Jax zeigte auf das große Haus unter ihnen. »Hier hast du doch genug Himmel, der dir ganz allein gehört.«
»Ich muss gehen«, beharrte Luna. »Ich bin schon zu lange weg.«
Jax hob die Hand, als wollte er sie festhalten, doch dann hielt er inne. »Wir können hier selbst über die Jahreszeit bestimmen«, sagte er. »In deinem
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