Die Furcht des Weisen / Band 1
Schlafzimmer kann Winter oder Frühling sein, ganz wie du willst.«
»Ich muss gehen«, wiederholte Luna und blickte erneut zum Himmel auf. »Aber ich komme wieder, wie ich es immer tue. Und wenn du Flöte für mich spielst, besuche ich dich.«
»Ich habe dir drei Dinge geschenkt«, sagte Jax. »Ein Lied, ein Zuhause und mein Herz. Willst du mir nicht auch drei Dinge schenken, wenn du schon gehen musst?«
Luna lachte und streckte die Hände seitlich aus. Sie war splitterfasernackt. »Was habe ich denn, das ich dir geben könnte? Aber wenn ich dir etwas schenken soll, dann frage, und du bekommst es.«
Jax’ Mund war auf einmal wie ausgetrocknet. »Zuerst bitte ich dich um die Berührung deiner Hand.«
»Eine Hand berührt die andere. Deine Bitte sei dir gewährt.« Luna streckte den Arm aus. Ihre Hand war glatt und kräftig. Zuerst fühlte sie sich kühl an, dann wunderbar warm. Über Jax’ Arme lief eine Gänsehaut.
»Zweitens bitte ich dich um einen Kuss«, sagte er.
»Ein Mund berührt den anderen. Deine Bitte sei dir gewährt.« Luna beugte sich vor. Ihr Atem duftete, ihre Lippen waren fest wie eine Frucht. Der Kuss nahm Jax den Atem, und zum ersten Mal in seinem Leben spielte der Anflug eines Lächelns um seine Lippen.
|828| »Und deine dritte Bitte?«, fragte Luna. Sie sah Jax mit ihren schwarzen, klugen Augen an und lächelte wissend.
»Dein Name«, flüsterte Jax. »Damit ich dich rufen kann.«
»Ein Leib …«, setzte Luna an und kam eifrig näher. Dann hielt sie inne. »Nur meinen Namen?« Sie legte Jax die Hand um die Hüften.
Jax nickte.
Sie beugte sich dicht über sein Ohr, und Jax spürte ihren warmen Atem.
»Ludis.«
Da zog Jax das kleine, eiserne Kästchen heraus, fing den Namen ein und schloss den Deckel.
»Jetzt habe ich deinen Namen«, rief er. »Deshalb kann ich dir befehlen. Und ich befehle dir, für immer bei mir zu bleiben, damit ich glücklich bin.«
So kam es denn auch. Das Kästchen in seiner Hand war nicht mehr kalt, sondern warm, und Jax spürte den Namen darin wie eine Motte, die gegen eine Fensterscheibe flattert.
Aber vielleicht hatte er den Deckel ja zu langsam geschlossen. Vielleicht hatte er auch zu lange mit dem Haken des Verschlusses hantiert. Oder er hatte einfach wie immer Pech gehabt. Jedenfalls hatte er nur einen Teil des Namens eingefangen, nicht den ganzen.
Er konnte Luna zwar eine Weile für sich behalten, aber sie entschlüpft ihm immer wieder und kehrt aus seinem kaputten Haus in unsere Welt zurück. Doch weil Jax einen Teil ihres Namens besitzt, muss sie immer wieder zu ihm zurückkehren.
Hespe sah uns lächelnd an. »Deshalb verändert die Scheibe des Mondes sich ständig. Und wenn wir sie nicht am Himmel sehen, ist sie bei Jax. Er hat sie eingefangen und besitzt sie heute noch. Ob ihn das allerdings glücklich macht, weiß nur er selbst.«
Es folgte ein langes Schweigen.
»Das ist ja mal eine tolle Geschichte«, sagte Dedan schließlich.
Hespe senkte den Blick, und ich hätte einen Penny darauf gewettet, dass sie rot wurde, obwohl man das im Licht des Feuers nur |829| schwer beurteilen konnte. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass die herbe Hespe überhaupt rot werden konnte.
»Ich habe lange gebraucht, bis ich sie auswendig konnte«, sagte sie. »Meine Mutter hat sie mir erzählt, als ich noch ein Kind war. Jeden Abend und immer genau gleich. Sie sagte, sie hätte die Geschichte von ihrer Mutter.«
»Du musst sie auf jeden Fall an deine Töchter weitergeben«, sagte Dedan. »Eine so gute Geschichte darf nicht in Vergessenheit geraten.«
Hespe lächelte.
Leider war jener friedliche Abend wie die Ruhe im Auge des Sturms. Am folgenden Tag machte Hespe eine Bemerkung, die Dedan zutiefst kränkte, und die beiden konnten sich zwei Stunden lang nicht ansehen, ohne sofort wie wütende Katzen loszufauchen.
Dedan wollte uns dazu überreden, die Suche aufzugeben. Wir sollten uns stattdessen als Karawanenwächter verdingen und dadurch einen Überfall der Banditen provozieren. Marten meinte, das sei in etwa so sinnvoll wie eine Bärenfalle zu suchen, indem man mit dem Fuß hineintritt. Er hatte recht, aber das verhinderte nicht, dass die beiden sich in den folgenden Tagen immer wieder stritten.
Zwei Tage später entfuhr Hespe beim Baden ein überraschter, mädchenhafter Schrei. Wir eilten ihr in Erwartung der Banditen zu Hilfe. Stattdessen stand ein nackter Tempi bis zu den Knien im Bach. Hespe stand halb angezogen und tropfnass am Ufer. Marten wollte
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