Die Furcht des Weisen / Band 1
nur Berge, sondern alles.«
»Lethani bedeutet also Zivilisation.«
Pause.
Ja und nein.
Tempi schüttelte den Kopf.
Ratlos.
Mir fiel ein, dass er gesagt hatte, Söldner müssten Lethani zweimal lernen. »Geht es beim Lethani um das Kämpfen?«, fragte ich.
»Nein.«
Er antwortete mit einer solchen Überzeugung, dass ich zur Sicherheit noch einmal das Gegenteil fragen musste. »Geht es darum, nicht zu kämpfen?«
|818| »Nein. Wer Lethani kennt, weiß, wann er kämpfen muss und wann nicht.« Tempi machte das Zeichen für
sehr wichtig.
Ich beschloss, mich dem Thema von einer anderen Seite zu nähern. »Hatte dein Kampf heute mit Lethani zu tun?«
»Ja. Ich wollte zeigen, dass die Adem keine Angst haben. Bei den Barbaren gilt nicht zu kämpfen als feige. Feigheit ist Schwäche. Sie sollen mich nicht für schwach und feige halten. Also kämpfe ich, weil viele zusehen. Ich zeige ihnen, dass ein Adem viele von ihnen wert ist.«
»Und wenn sie gewonnen hätten?«
»Dann wüssten sie, dass Tempi nicht viele von ihnen wert ist.«
Belustigt.
»Wenn sie gewonnen hätten, hättest du heute nicht im Geist des Lethani gekämpft?«
»Doch. Auch wenn man auf dem Pass stürzt und sich ein Bein bricht, bleibt es doch der Pass. Auch wenn ich bei der Ausführung von Lethani einen Fehler mache, bleibt es doch Lethani.«
Ernst.
»Deshalb sprechen wir heute darüber. Dein Messer war nicht Lethani. Es war falsch, das Messer zu ziehen.«
»Ich hatte Angst, du könntest verletzt werden.«
»Lethani wurzelt nicht in der Angst.« Es klang wie auswendig aufgesagt.
»Hätte ich riskieren sollen, dass du verletzt wirst?«
Ein Achselzucken. »Vielleicht.«
»Es wäre im Sinn von Lethani, zuzulassen, dass …«
Äußerste Betonung.
»… du verletzt wirst?«
»Vielleicht nicht. Aber mir ist ja nichts passiert. Als Erster zum Messer zu greifen widerspricht jedenfalls dem Lethani. Wer siegt, aber als Erster zum Messer gegriffen hat, hat nicht gesiegt.« Tempi machte das Zeichen für
äußerste Missbilligung.
Sein letzter Satz blieb mir unklar. »Das verstehe ich nicht.«
»Lethani ist richtiges Handeln. Auf die richtige Art und zur rechten Zeit.« Tempis Miene hellte sich plötzlich auf. »Wie lautete das Wort für den alten Händler aus Hespes Geschichte?«, fragte er eifrig.
»Kessler?«
»Ja, Kessler. Wie muss man solche Leute behandeln?«
|819| Ich wusste es, wollte aber Tempis Meinung kennen lernen. »Wie denn?«
Tempi sah mich an und drückte die Finger aneinander.
Verärgerung.
»Freundlich und hilfsbereit. Man muss immer höflich mit ihnen sprechen. Immer.«
Ich nickte. »Und wenn sie einem etwas anbieten, muss man überlegen, ob man es kaufen will.«
Tempi machte eine triumphierende Geste. »Genau! Man kann einen Kessler auf verschiedene Weise behandeln, aber nur eine davon ist richtig.« Er beruhigte sich wieder ein wenig und hob warnend die Hand. »Aber Lethani besteht nicht nur aus Handeln. Zuerst wissen, dann handeln, das ist Lethani.«
Ich dachte über seine Worte nach. »Also bedeutet Lethani, höflich zu sein?«
»Nicht höflich, nicht freundlich, nicht gut, nicht pflichtbewusst. Lethani ist nichts davon. Jeder Moment macht eine andere Entscheidung notwendig.« Er musterte mich mit einem durchdringenden Blick. »Verstehst du das?«
»Nein.«
Tempi machte die Handbewegung für
Zustimmung, Freude.
Er stand auf und nickte. »Gut, dass dir das bewusst ist. Und dass du es sagst. Auch das ist Lethani.«
|820| Kapitel 88
Zuhören
B ei unserer Rückkehr ins Lager waren die anderen zu unserer Überraschung bestens gestimmt. Dedan und Hespe lächelten sich fortwährend an, und Marten hatte einen wilden Truthahn zum Abendessen geschossen.
Das Abendessen verlief in heiterer Stimmung. Nachdem das Geschirr abgespült war, erzählte Hespe die Geschichte von dem Jungen, der sich in Frau Luna verliebt hatte, noch einmal von Anfang an. Dedan hielt wunderbarerweise den Mund, und ich begann zu hoffen, wir könnten endlich zu einer richtigen Gruppe zusammenwachsen.
Jax hatte keine Schwierigkeiten, dem Mond zu folgen, denn der Mond war damals immer voll. Rund wie eine Tasse hing er am Himmel und leuchtete so hell wie eine Kerze.
Jax ging tagelang, bis ihn die Füße schmerzten und sein Rücken unter dem schweren Ranzen müde wurde. Er ging Monate und Jahre, und er wuchs heran und wurde groß und hager und hatte ständig Hunger.
Wenn er etwas zu essen brauchte, tauschte er etwas aus seinem Ranzen ein. Auf dieselbe Weise
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