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Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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beschaffte er sich neue Schuhe, wenn die alten abgelaufen waren. Er war geschickt und einfallsreich und kam gut allein zurecht.
    Die ganze Zeit über dachte er an Luna. Wenn er glaubte, keinen Schritt mehr gehen zu können, setzte er die Brille auf und betrachtete sie. Und wenn er sie sah, verspürte er ein leises Ziehen in der Brust, und ihm war, als habe er sich verliebt.
    |821| Irgendwann führte die Straße, der er folgte, wie alle anderen Straßen auch, durch Tinuë. Doch er ging immer noch weiter und folgte der großen Steinstraße nach Osten in Richtung des Gebirges.
    Die Straße führte immer höher. Er aß sein letztes Brot und seinen letzten Käse und trank das letzte Wasser und den letzten Wein. Tagelang ging er, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Der Mond am nächtlichen Himmel über ihm wurde immer größer.
    Am Ende seiner Kräfte angelangt, stieg Jax über eine Kuppe und sah einen alten Mann am Eingang einer Höhle sitzen. Der Alte hatte einen langen grauen Bart und trug ein langes graues Gewand. Auf dem Kopf hatte er keine Haare, an den Füßen keine Schuhe. Seine Augen waren geöffnet, sein Mund geschlossen.
    Beim Anblick des Jungen hellte sich seine Miene auf. Lächelnd erhob er sich. »Sei mir gegrüßt«, sagte er mit einer hellen, volltönenden Stimme. »Du kommst einen weiten Weg. Wie ist die Straße nach Tinuë?«
    »Lang«, antwortete Jax. »Und steinig und anstrengend.«
    Der Alte bedeutete Jax, sich zu setzen. Er brachte ihm Wasser und Ziegenmilch und Obst. Jax aß hungrig und bot dem Alten zum Tausch ein Paar Schuhe aus seinem Ranzen an.
    »Die brauche ich nicht«, sagte der Alte kichernd und wackelte mit den Zehen. »Aber trotzdem danke für das Angebot.«
    Jax zuckte mit den Schultern. »Wie du willst. Aber was tust du hier, so weit weg von allem?«
    »Ich habe diese Höhle entdeckt, als ich dem Wind nachgejagt bin«, sagte der Alte. »Dann bin ich geblieben, denn dieser Ort ist für das, was ich tue, hervorragend geeignet.«
    »Und was tust du?«
    »Ich bin Zuhörer. Ich höre zu, was die Dinge zu sagen haben.«
    »Aha«, sagte Jax ein wenig misstrauisch. »Und das kann man hier gut?«
    »Sehr gut, sogar ganz außergewöhnlich gut«, antwortete der Alte. »Man muss sich sehr weit von den anderen Menschen entfernen, bevor man richtig hören kann.« Er lächelte. »Und was hat dich in diesen Winkel verschlagen?«
    »Ich suche Luna.«
    |822| »Das ist einfach.« Der Alte zeigte zum Himmel hinauf. »Bei gutem Wetter kann man sie jede Nacht dort sehen.«
    »Nein, ich will sie einfangen. Wenn ich bei ihr sein könnte, wäre ich glaube ich glücklich.«
    Der Alte betrachtete ihn ernst. »Du willst sie einfangen, ja? Wie lange versuchst du das schon?«
    »Seit mehr Jahren und Meilen, als ich zählen kann.«
    Der Alte schloss die Augen und nickte dann entschlossen. »Ich höre an deiner Stimme, dass dies keine vorübergehende Laune ist.« Er beugte sich vor und hielt das Ohr an Jax’ Brust, schloss die Augen und verharrte eine Weile regungslos. »Oh nein«, sagte er schließlich leise, »wie traurig. Dein Herz ist gebrochen, noch ehe du es gebrauchen konntest.«
    Jax rutschte ein wenig unbehaglich auf seinem Platz hin und her. »Wenn du mir die Frage erlaubst, wie heißt du?«
    »Ich erlaube dir die Frage, wenn du mir erlaubst, sie nicht zu beantworten. Wenn du meinen Namen wüsstest, hättest du Macht über mich.«
    »Wirklich?«
    »Natürlich.« Der Alte runzelte die Stirn. »So ist das nun mal. Ich muss aufpassen, obwohl du kein guter Zuhörer zu sein scheinst. Wenn du auch nur einen Teil meines Namens wüsstest, hättest du mich in vieler Hinsicht in deiner Gewalt.«
    Jax überlegte, ob der Mann ihm vielleicht helfen konnte. Er schien kein normaler Mensch zu sein, aber seine eigene Suche war ebenfalls kein normales Unternehmen. Wenn er eine Kuh hätte einfangen wollen, hätte er einen Bauern zu Hilfe gerufen. Doch um Luna einzufangen brauchte er vielleicht die Hilfe eines absonderlichen Alten. »Du meintest, du seist dem Wind nachgejagt«, sagte er. »Hast du ihn gefangen?«
    »In gewisser Hinsicht ja«, antwortete der Alte. »In anderer Hinsicht nein. Man kann diese Frage nämlich verschieden verstehen.«
    »Kannst du mir helfen, Frau Luna zu fangen?«
    »Ich könnte dir vielleicht einen Rat geben«, sagte der Alte zögernd. »Aber du solltest es dir zuerst gut überlegen, mein Junge. Wer sich verliebt, sollte sich vergewissern, dass seine Liebe erwidert wird, |823| sonst handelt er sich

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