Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
Vor allem der Eisenschimmel mit dem glänzenden Fell pflegte des öfteren im Unterholz zu verschwinden, um dort nach Futter zu suchen. Drei Mal hatte ich ihn schon von dort herausziehen müssen, und wir waren nicht mehr gut aufeinander zu sprechen. Aus naheliegenden Gründen hatte ich ihn auf den Namen Nervensäge getauft.
Als ich ihn das vierte Mal auf die Straße zurückziehen musste, überlegte ich ernsthaft, ob ich ihn der Einfachheit halber laufen lassen sollte. Natürlich tat ich es nicht. Ein gutes Pferd lässt sich für gutes Geld verkaufen. Außerdem war ich schneller, wenn ich nach Severen zurückritt, statt den ganzen Weg zu laufen.
Krin und ich versuchten nach Kräften, Ellie unterwegs in ein Gespräch zu verwickeln. Es schien auch ein wenig zu helfen. Um die Mittagszeit schien sie fast schon mitzubekommen, was um sie vorging. Fast.
Als wir uns nach dem Mittagessen zum Aufbruch bereit machten, hatte ich eine Idee. Ich ging mit dem Apfelschimmel zu Ellie. Ihr langes goldenes Haar war ungekämmt, und sie mühte sich gerade ab, die Finger einer Hand hindurchzuziehen, während ihre Augen gleichzeitig unruhig hin und her wanderten, als wisse sie nicht, wo sie war.
»Ell.« Sie sah mich an. »Kennst du unseren Grauschwanz schon?« Ich zeigte auf den Apfelschimmel.
Ein schwaches, verwirrtes Kopfschütteln.
»Du musst mir helfen, ihn zu führen. Hast du schon mal ein Pferd geführt?«
Ein Nicken.
»Er braucht jemanden, der sich um ihn kümmert. Kannst du das tun?« Grauschwanz sah mich mit einem großen Auge an, als wollte er mir zu verstehen geben, dass er so dringend geführt werden musste, wie ich Räder zum Laufen brauchte. Doch dann senkte er den Kopf und stieß Ellie fürsorglich mit der Schnauze an. Das Mädchen streckte automatisch die Hand aus und streichelte ihm das Maul. Dann nahm sie die Zügel.
Ich kehrte zu Krin zurück, um die anderen Pferde zu beladen. »Glaubst du, das geht gut?«, fragte Krin.
»Grauschwanz ist so sanft wie ein Lamm.«
»Bloß weil Ell dumm wie ein Schaf ist, passen sie noch lange nicht zusammen«, sagte Krin schelmisch
Ich lächelte. »Wir behalten sie die nächste Stunde im Auge. Wenn es nicht geht, dann eben nicht. Aber manchmal hilft es einem am meisten, wenn man jemand anderem hilft.«
Weil ich schlecht geschlafen hatte, war ich an diesem Tag doppelt müde. Ich hatte ein Brennen im Magen, und meine Haut fühlte sich wund an, als hätte jemand mit Schleifpapier die oberen beiden Schichten abgeschliffen. Ich war versucht, aufs Pferd zu steigen und im Sattel zu dösen, wollte aber nicht reiten, solange die Mädchen zu Fuß gingen.
Also trottete ich mechanisch neben ihnen die Straße entlang und führte mein Pferd hinter mir her. Doch gelang es mir nicht, wie sonst bei längeren Märschen in einen angenehmen Halbschlaf zu verfallen. Zu sehr plagten mich die Gedanken an Alleg. Ich hätte gern gewusst, ob er noch lebte.
Von meiner Zeit an der Mediho wusste ich, dass die Bauchwunde, die ich ihm zugefügt hatte, tödlich war. Ich wusste allerdings auch, dass man daran nur langsam starb, langsam und qualvoll. Bei entsprechender Pflege konnte bis zum Eintritt des Todes eine ganzeSpanne vergehen. Selbst allein in der Wildnis konnte Alleg mit einer solchen Wunde noch Tage leben.
Freilich keine angenehmen Tage. Er würde Fieber bekommen, wenn die Wunde sich entzündete, und ins Delirium verfallen. Bei jeder Bewegung würde die Wunde wieder aufreißen. Gehen konnte er mit seinem gelähmten Bein sowieso nicht. Wenn er sich also fortbewegen wollte, musste er kriechen. Inzwischen würde er Hunger haben und schrecklichen Durst.
Aber verdursten würde er nicht, nein. Ich hatte vor dem Aufbruch einen vollen Wasserschlauch neben ihn gelegt. Nicht aus Menschenfreundlichkeit und nicht um seine letzten Stunden erträglicher zu machen, sondern weil ich wusste, dass er mit dem Wasser länger leben und mehr leiden würde.
Ihm den Wasserschlauch dazulassen war das Schrecklichste, das ich je getan hatte, und jetzt, da mein Zorn abgekühlt war, bereute ich es. Ich hätte gern gewusst, wie viele Tage er wegen des Wassers länger leben würde. Einen? Zwei? Bestimmt nicht mehr als zwei. Ich wollte mir diese beiden Tage gar nicht vorstellen.
Aber wenn ich den Gedanken an Alleg verdrängte, musste ich gegen andere Dämonen kämpfen. Mir fielen immer wieder neue Einzelheiten jener Nacht ein: was die falschen Schauspieler gesagt hatten, als ich sie niederschlug, das Geräusch meines
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