Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
setzte ihn an die Lippen und trank eine volle Minute lang. Wahrscheinlich war sie vom vielen Marschieren halb verdurstet. Ich nahm mir vor, sie am nächsten Tag genauer im Auge zu behalten, damit sie genug trank.
»Möchtest du auch etwas trinken, Krin?«
»Ja bitte«, sagte Krin, den Blick auf Ellies Gesicht gerichtet.
Ellie hielt Krin den Wasserschlauch mit einer mechanischen Bewegung hin, direkt über das Feuer. Der Schulterriemen hing in die Glut. Krin nahm ihn hastig und fügte ein verspätetes »Danke, Ell« hinzu.
Ich hielt das ruhige Gespräch die ganze Mahlzeit über aufrecht. Am Ende aß Ellie selbst. Ihre Augen wirkten etwas klarer, doch schien sie gleichsam durch eine Milchglasscheibe zu blicken. Sie sah Dinge und sah sie zugleich nicht. Immerhin war es ein Fortschritt.
Nachdem sie zwei Teller Suppe und einen halb Laib Brot gegessen hatte, begannen ihr die Augen zuzufallen. »Möchtest du gerne schlafen, Ell?«, fragte ich.
Ein etwas deutlicheres Nicken.
»Soll ich dich zum Zelt tragen?«
Sie riss die Augen auf und schüttelte entschieden den Kopf.
»Vielleicht hilft dir Krin, dich zum Schlafen fertig zu machen, wenn du sie bittest.«
Ellie drehte den Kopf in Krins Richtung und bewegte stumm die Lippen. Krin sah mich an, und ich nickte.
»Na, dann lass uns mal ins Bett gehen«, sagte Krin. Sie klang ganz wie eine ältere Schwester. Sie trat neben Ellie, nahm sie an der Hand und half ihr auf. Während die beiden zum Zelt gingen, aß ich den Rest der Suppe und ein Stück Brot, das so verkohlt war, dass die beiden Mädchen es nicht gegessen hatten.
Krin kehrte schon bald zum Feuer zurück.
»Schläft sie?«, fragte ich.
»Sie schlief schon, bevor sie richtig lag. Glaubst du, sie erholt sich wieder?«
Ellie hatte einen schweren Schock erlitten und sich in den Wahnsinn geflüchtet, um sich vor der Wirklichkeit zu schützen. »Mit der Zeit bestimmt«, sagte ich müde und hoffte, dass ich recht hatte. »Wenn man jung ist, erholt man sich schnell.« Ich musste traurig lachen, weil mir einfiel, dass Ellie wahrscheinlich nur ein Jahr jünger war als ich. Allerdings spürte ich an diesem Abend jedes Jahr doppelt, einige sogar dreifach.
Obwohl meine Glieder sich bleischwer anfühlten, zwang ich mich aufzustehen und Krin beim Abwasch zu helfen. Als wir fertig waren und auch die Pferde auf einem anderen Teil der Wiese angepflockt hatten, spürte ich, wie sie unruhig wurde. Ihre Anspannung wuchs, als wir uns dem Zelt näherten. Ich blieb stehen und hielt die Eingangsklappe für sie auf. »Ich schlafe heute Nacht draußen.«
Ihre Erleichterung war mit Händen zu greifen. »Wirklich?«
Ich nickte. Sie schlüpfte hinein, und ich ließ die Klappe hinter ihr herunterfallen. Sofort streckte Krin den Kopf wieder heraus und ihre Hand, die eine Decke hielt.
Ich schüttelte den Kopf. »Ihr werdet beide Decken brauchen. Es wird eine kalte Nacht.« Ich wickelte mich in meinen Schattenmantel und legte mich unmittelbar vor das Zelt, denn ich wollte nicht, dass Ell nachts schlafwandelte und sich dabei verirrte oder verletzte.
»Wirst du nicht frieren?«
»Mir macht das nichts«, sagte ich. Ich war so müde, dass ich auf einem galoppierenden Pferd hätte schlafen können. Auch unter einem galoppierenden Pferd.
Krin verschwand wieder im Zelt. Kurz darauf hörte ich sie unter die Decken schlüpfen. Dann kehrte Stille ein.
Ich musste an den erschrockenen Blick Ottos denken, als ich ihm die Kehle durchgeschnitten hatte. Dann hörte ich wieder Alleg kraftlos strampeln und fluchen, während ich ihn zu den Wagen schleifte. Das viele Blut fiel mir ein und wie es sich an den Händen angefühlt hatte, wie dickflüssig es gewesen war.
Ich hatte noch nie jemanden kaltblütig und aus nächster Nähe getötet. Wie warm das Blut gewesen war. Wie hysterisch Kete gekreischt hatte, als ich ihr durch den Wald nachgerannt war. »Ich hatte keine Wahl!«, hatte sie geschrien. »Entweder die oder ich!«
So lag ich lange wach. Als ich endlich einschlief, waren meine Träume noch schlimmer.
Kapitel 134
Die Straße nach Levinshir
A m folgenden Tag kamen wir nur mühsam voran, da Krin und ich die drei Pferde führen mussten und dazu noch Ellie. Zum Glück waren die Pferde brav, wie es von den Edema zugerittene Pferde meistens sind. Wenn sie so unberechenbar wie die arme Tochter des Bürgermeisters gewesen wären, hätten wir es womöglich nie bis nach Levinshir geschafft.
Trotzdem machten sie fast mehr Ärger, als sie wert waren.
Weitere Kostenlose Bücher