Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
wissen, bitte. Sie haben meine Eltern ermordet.«
»Willst du etwa die Chandrian töten?« Die Stimme klang fasziniert, geradezu erschrocken. »Sie ganz allein aufspüren und töten? Du meine Güte, wie willst du das schaffen? Haliax ist fünftausend Jahre alt und hat in fünftausend Jahren keine Sekunde geschlafen. Es ist wahrscheinlich klug von dir, nach den Amyr zu suchen. Sogar jemand, der so stolz ist wie du, erkennt, wann er Hilfe braucht. Vielleicht bekommst du sie von dem Orden. Das Problem ist nur, sie sind genauso schwer zu finden wie die Sieben selber. Nein so was! Was soll ein tapferer Junge da bloß tun?«
»Sag es mir!« Ich hatte es schreien wollen, aber es hörte sich eher wie eine flehentliche Bitte an.
»Es ist bestimmt frustrierend«, fuhr der Cthaeh seelenruhig fort. »Die wenigen Leute, die an die Existenz der Chandrian glauben, sagen vor lauter Angst nichts, und alle anderen lachen dich nur aus, wenn du sie fragst.« Ein tiefer Seufzer ertönte. Er schien von mehreren Stellen der Krone gleichzeitig zu kommen. »Aber das ist der Preis der Zivilisation.«
»Was?«, fragte ich.
»Hochmut«, antwortete der Cthaeh. »Ihr glaubt alles zu wissen. Du hast dich über Feen lustig gemacht, bis du einer begegnet bist. Kein Wunder, dass die anderen zivilisierten Menschen auch nicht an die Chandrian glauben. Du müsstest dich schon sehr weit aus deiner Welt herauswagen, bis du jemanden finden würdest, der dich ernst nimmt. Mindestens bis zum Stormwall-Gebirge reisen müsstest du.«
Eine Pause entstand, dann schwebte wieder ein violettes Flügelpaar zu Boden. Mein Hals war wie ausgetrocknet, und ich schluckte und überlegte, welche Frage mir weiterhelfen konnte.
»Dir ist klar, dass nicht viele deine Suche nach den Amyr ernstnehmen würden«, fuhr der Cthaeh ruhig fort. »Der Maer allerdings ist ein außergewöhnlicher Mensch. Er ist den Chandrian schon sehr nahe gekommen, allerdings ohne es zu merken. Halte dich an ihn, er wird dich bis vor ihre Tür führen.«
Der Cthaeh kicherte. Es klang wie ein dürres Rascheln. »Blut und Bein! Wenn ihr Menschen nur den Verstand hättet, mich ernst zu nehmen. Auch wenn du alles andere vergisst, denk an meine Worte von eben. Irgendwann wirst du den Scherz verstehen, das versichere ich dir. Und dann wirst du lachen.«
»Was kannst du mir über die Chandrian erzählen?«, fragte ich.
»Da du so artig fragst: Cinder heißt der, den du suchst. Du erinnerst dich an ihn? Weiße Haare, schwarze Augen? Er hat deiner Mutter übel mitgespielt, schrecklich. Aber sie hielt sich wacker. Laurian war die geborene Schauspielerin, wenn du das Wort entschuldigst. Eine viel bessere als dein Vater mit seinem Jammern und Flehen.«
Vor meinem geistigen Auge blitzten Bilder auf, die ich jahrelang verdrängt hatte. Meine Mutter mit vom Blut nassen Haaren und verrenkten, an Handgelenken und Ellbogen gebrochenen Armen. Mein Vater mit aufgeschnittenem Bauch und einer fünf, sechs Meter langen Blutspur. Er war zu meiner Mutter gekrochen, um ihr näher zu sein. Ich wollte etwas sagen, aber mein Mund war wie ausgetrocknet. »Warum?«, krächzte ich.
»Warum?«, echote der Cthaeh. »Gute Frage. Ich kenne so viele Warums. Warum sie mit deiner armen Familie so abscheuliche Sachengemacht haben? Na, weil sie es wollten, weil sie es konnten und weil sie einen Grund dazu hatten. Und warum sie dich am Leben gelassen haben? Weil sie geschlampt haben, weil du Glück hattest und weil etwas sie verscheucht hat.«
Was hat sie verscheucht?,
dachte ich wie betäubt und überwältigt von Erinnerungen und dem, was die Stimme sagte. Meine Lippen bewegten sich und formten eine stumme Frage.
»Was?«, fragte der Cthaeh. »Du suchst nach einem anderen Warum? Du willst wissen, warum ich dir das alles erzähle? Zu welchem Nutzen? Vielleicht hat dieser Cinder ja auch mir einmal übel mitgespielt. Vielleicht macht es mir ja einfach Spaß, ihm einen jungen Hund wie dich auf die Fersen zu hetzen. Vielleicht klingt ja das leise Knarren deiner Sehnen, wenn du die Fäuste ballst, in meinen Ohren wie Musik. Ja wirklich, da kannst du sicher sein.
Warum kannst du diesen Cinder nicht finden? Das ist ein interessantes Warum. Man sollte doch meinen, jemand mit kohlschwarzen Augen fällt auf, wenn er im Wirtshaus sitzt und etwas trinkt. Aber wie kommt es dann, dass du ihn all die Jahre nicht finden konntest?«
Ich schüttelte den Kopf, um den Geruch von Blut und verbrannten Haaren aus meinen Gedanken zu bekommen.
Der
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