Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
Lebensgeschichte vollständig und aufrichtig zu erzählen. Alles, was …«
Bast kniff die Augen zu und schlug auf den Tisch, wie ein von einem Trotzanfall gepackter kleiner Junge. »Sei still. Sei still!
SEI
STILL
!«
Er zeigte auf den Chronisten. »Es ist mir scheißegal, was du ihm erzählst, Reshi. Er schreibt sowieso nur, was ich ihm gestatte, sonst fresse ich auf dem Marktplatz sein Herz!« Er richtete den Zeigefinger wieder auf den Wirt und fuchtelte fuchsteufelswild. »Aber
mir
sagst du die Wahrheit – und zwar
jetzt, auf der Stelle
!«
Kvothe sah seinen Schüler an, und alle Belustigung war aus seinem Gesicht gewichen. »Bast, wir wissen beide, dass ich mir für kleinere Ausschmückungen hier und da nicht zu schade bin. Aber mit dieser Geschichte ist es etwas anderes. Das hier ist meine Chance, die Wahrheit über all diese Dinge niederschreiben zu lassen. Hier geht es um die Wahrheit hinter all den Geschichten.«
Der junge Mann beugte sich auf seinem Stuhl vor und hielt sich mit einer Hand die Augen zu.
Kvothe sah ihn besorgt an. »Alles in Ordnung mit dir?«
Bast schüttelte den Kopf und hielt sich weiter die Augen zu.
»Bast«, sagte Kvothe in sanftem Ton. »Du blutest an der Hand.« Er wartete einen Moment lang ab und fragte dann: »Bast, was ist denn los?«
»Das ist es ja gerade!«, platzte Bast hervor und riss die Arme auseinander. Er klang geradezu hysterisch. »Ich glaube, ich habe endlich verstanden, was los ist!«
Dann lachte er übertrieben laut, doch das Gelächter endete abrupt mit einem Schluchzer. Mit glänzenden Augen sah er zur Decke des Schankraums empor. Dabei blinzelte er, als hielte er Tränen zurück.
Kvothe beugte sich vor und legte dem jungen Mann eine Hand auf die Schulter. »Bast, bitte …«
»Es ist nur … du weißt doch so vieles«, sagte Bast. »Du weißt alle möglichen Dinge, die du eigentlich gar nicht wissen dürftest. Du weißt von der Berentaltha. Du weißt von den weißen Schwestern und dem Weg des Lachens. Wie kann es da angehen, dass du über den Cthaeh nicht Bescheid weißt? Das … das ist ein Ungeheuer.«
Kvothe entspannte sich sichtlich. »Meine Güte, Bast, ist das alles? Du hattest mir schon richtig Angst gemacht. Also, ich bin schon weitaus Schlimmerem entgegengetreten als –«
»Es gibt nichts Schlimmeres als den Cthaeh!«, schrie Bast und schlug mit der Faust auf den Tisch. Diesmal hörte man das Holz splittern. »Reshi, sei still und hör mir zu. Hör mir genau zu.« Bast senkte kurz den Blick und wählte seine Worte mit Bedacht. »Du weißt, wer die Sithe sind?«
Kvothe zuckte die Achseln. »Eine Gruppe innerhalb der Fae. Mächtig, gutmütig –«
Bast winkte ab. »Wenn du sie als ›gutmütig‹ bezeichnest, hast du keine Ahnung von ihnen. Aber wenn sich von irgendwem innerhalb der Fae behaupten lässt, dass er dem Wohle der Allgemeinheit dient, dann von den Sithe. Und ihre älteste und wichtigste Aufgabe besteht darin, zu verhindern, dass der Cthaeh mit irgendjemandem in Kontakt tritt.«
»Ich habe da keine Wachen gesehen«, sagte Kvothe in einem Tonfall, als ginge es ihm darum, ein scheuendes Tier zu beruhigen.
Bast fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, so dass es ihm unordentlich vom Kopf stand. »Ich kann mir um alles in der Welt nicht erklären, wie du an denen vorbeigekommen bist, Reshi. Wenn es jemandem gelingt, mit dem Cthaeh in Kontakt zu treten, wird derjenige von den Sithe getötet. Sie töten ihn aus einer halben Meile Entfernung mit ihren langen Hornbögen. Und dann lassen sie die Leiche an Ort und Stelle liegen und verwesen. Wenn eine Krähe es auch nur wagt, darauf zu landen, töten sie auch die Krähe.«
Der Chronist räusperte sich leise und meldete sich zu Wort. »Wenn das stimmt«, sagte er, »wieso sucht dann überhaupt jemand den Cthaeh auf?«
Einen Moment lang wirkte es, als würde Bast den Chronisten gleich zusammenstauchen, doch stattdessen seufzte er bitter. »Gerechterweise sollte man erwähnen, dass die Meinigen nicht gerade für ihre klugen Entscheidungen berühmt sind«, sagte er. »Bei den Fae weiß zwar jedes Kind über das wahre Wesen des Cthaeh Bescheid, aber dennoch kommt es immer wieder mal vor, dass ihn jemand unbedingt aufsuchen will. Die Leute gehen zu ihm, weil sie sich Antworten erhoffen oder einen Blick in die Zukunft werfen wollen. Oder sie hoffen, dort eine Blume zu bekommen.«
»Eine Blume?«, fragte Kvothe.
Bast sah ihn erneut entgeistert an. »Die Rhinna?«, sagte er, und als sich auf dem
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