Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
war. »Ich muss gehen und Shehyn Bericht erstatten. Das dauert vielleicht einige Zeit.«
Sorge
und
Bedauern.
»Du musst hier warten. Vielleicht lange.« Seine Körpersprache erzählte mir mehr als seine Worte.
Ich kann dich nicht mit hinein nehmen, weil du ein Barbar bist.
»Ich warte hier«, versicherte ich ihm.
Er nickte und betrat das Gebäude. Bevor er die Tür hinter sich schloss, warf er mir einen letzten Blick zu.
Ich sah mich um. Verschiedene Dorfbewohner gingen stumm ihrer Arbeit nach. Eine Frau trug einen Korb, ein Junge führte eine Ziege an einem Strick. Die Häuser bestanden aus dem gleichen groben Stein wie die felsige Landschaft und verschmolzen mit ihrer Umgebung. Der Himmel war bedeckt und bildete einen weiteren Grauton.
Und überall wehte der Wind, pfiff um die Ecken und drückte Muster ins Gras. Ich überlegte kurz, ob ich meinen Schattenmantel herausholen sollte, tat es dann aber doch nicht. Die Luft war hier oben dünner und kälter, aber es war trotzdem sommerlich warm.
Es war eigenartig friedlich hier, ohne den Lärm und Gestank größerer Ortschaften. Kein Hufgeklapper war zu hören, kein Straßenverkäufer, der lauthals seine Waren feilbot. Ich konnte mir vorstellen, dass jemand wie Tempi, der hier aufgewachsen war, die Stille in sich aufsog, bis er voll davon war, und sie dann mitnahm, wenn er fortging.
Da es sonst kaum etwas zu sehen gab, betrachtete ich das mir nächste Gebäude genauer. Es war aus unregelmäßigen Steinen zusammengesetzt wie ein Puzzle. Zu meiner Verblüffung fehlte dazwischen der Mörtel. Ich klopfte mit dem Knöchel dagegen und überlegte kurz, ob es sich womöglich um einen einzigen Stein handelte, den man so zugehauen hatte, dass er wie viele ineinandergepasste Steine aussah.
»Wie findest du unsere Mauern?«, hörte ich hinter mir eine Stimme auf Ademisch fragen.
Ich drehte mich um. Vor mir stand eine alte Frau mit den typischen hellgrauen Augen der Adem. Ihr Gesicht war unbewegt, es hatte aber einen freundlichen, mütterlichen Ausdruck. Ihr Kopf war mit einer gelben Wollmütze bedeckt, die sie sich über die Ohren gezogen hatte. Durch die groben Maschen sah man ihr blondes, von weißen Strähnen durchzogenes Haar. Nachdem ich so lange mit Tempi zusammen gewesen war, mutete es mich seltsam an, einen Adem zu sehen, der weder das enganliegende, rote Söldnergewand noch ein Schwert trug. Stattdessen war die Frau mit einem losen weißen Hemd und einer Leinenhose bekleidet.
»Unsere Mauern faszinieren dich?«, fuhr sie fort und machte die Gesten für
Belustigung
und
Neugier.
»Was hältst du von ihnen?«
»Ich finde sie schön«, antwortete ich auf Ademisch und gab acht, dass ich ihren Blick nur kurz erwiderte.
Sie vollführte eine mir unbekannte Geste. »Schön?«
Ich zuckte ganz leicht mit den Schultern. »Auch einfache, nützliche Dinge können schön sein.«
»Vielleicht verstehst du das Wort falsch«, erwiderte sie mit einer entschuldigenden Handbewegung. »Eine Blume oder eine Frau oder ein Edelstein ist schön. Vielleicht wolltest du ›nützlich‹ sagen. Eine Mauer ist nützlich.«
»Nützlich, aber auch schön.«
»Vielleicht wird etwas schön, weil es genutzt wird.«
»Vielleicht wird etwas entsprechend seiner Schönheit genutzt«, konterte ich. Ob man sich bei den Adem mit solchem Geplauder die Zeit vertrieb? Jedenfalls war es mir lieber als der geistlose Klatsch am Hof des Maer.
»Und meine Mütze?«, fragte sie und fasste mit der Hand danach. »Ist sie auch schön, weil sie nützlich ist?«
Sie war aus einer groben, selbstgesponnenen und leuchtend maisgelb gefärbten Wolle gestrickt. An der einen Seite hing sie etwas tiefer herunter, und die Maschen waren verschieden groß. »Sie sieht sehr warm aus«, sagte ich vorsichtig.
Die Frau machte die Geste für
Belustigung
, und in ihre Augen trat ein kaum merkliches Funkeln. »Das ist sie. Und für mich ist sie auch schön, weil meine Enkelin sie für mich gestrickt hat.«
»Dann ist sie auch schön.«
Zustimmung.
Die Frau lächelte mit der Hand. Sie bewegte sie ein wenig anders als Tempi, und ich beschloss, die Geste als liebevolles, mütterliches Lächeln zu deuten. Ohne eine Miene zu verziehen, machte ich meinerseits die Geste für Lächeln, ein möglichst herzliches und höfliches Lächeln.
»Du sprichst sehr gut für einen Barbaren«, sagte sie und fasste mich freundlich an den Armen. »Wir haben hier nur selten Besuch und schon gar nicht so höflichen. Komm mit und ich zeige dir, was
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