Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
wie man fällt, ohne sich zu verletzen. Doch bevor ich erneut angreifen konnte, hob Shehyn die Hand.
»Tempi hat dich unterrichtet und nicht unterrichtet«, sagte sie mit unergründlicher Miene. Ich musste mich zwingen, den Blick von ihrabzuwenden. Es ist schwer, diese tiefverwurzelte Gewohnheit abzustellen. »Was schlecht ist und zugleich gut. Komm.« Sie wandte sich ab und ging in die Richtung des Baumes.
Er war größer, als ich gedacht hatte. Die Zweige schwangen in den heftigen Windböen aufgeregt hin und her.
Shehyn hob ein heruntergefallenes Blatt auf und reichte es mir. Es war breit und flach, so groß wie ein kleiner Teller und erstaunlich schwer. Ich spürte ein Stechen in der Hand und sah ein dünnes Rinnsal Blut an meinem Daumen hinunterlaufen.
Bei näherer Betrachtung des Blatts stellte sich heraus, dass es hart und sein Rand so scharf wie die Kante eines Grashalms war. Daher also der Name Schwertbaum. Ich blickte zu den kreiselnden Blättern hinauf. Wer dem Baum an einem windigen Tag zu nahe kam, wurde von ihm in Stücke geschnitten.
»Wenn du gegen diesen Baum kämpfen wolltest, was würdest du tun?«, fragte Shehyn. »Würdest du auf die Wurzel einhauen? Nein, sie ist zu dick. Auf das Blatt? Aber es bewegt sich zu schnell. Worauf dann?«
»Den Ast.«
»Den Ast.«
Zustimmung.
Shehyn sah mich an. »Das hat Tempi dir nicht beigebracht. Er hätte es dir auch nicht beibringen dürfen. Aber du hast dafür bezahlt.«
»Das verstehe ich nicht.«
Sie bedeutete mir mit einer Handbewegung, mit dem Ketan anzufangen. Ich nahm automatisch die Haltung des Spatzenfängers ein.
»Halt.« Ich erstarrte. »Wenn ich dich jetzt angreifen wollte, wo würde ich es tun? Hier, an der Wurzel?« Sie drückte gegen mein Bein, doch es bewegte sich nicht. »Hier am Blatt?« Sie drückte gegen meine erhobene Hand und konnte sie zwar bewegen, erreichte aber sonst nichts. »Oder hier am Ast.« Sie drückte sanft gegen meine Schulter, die sofort nachgab. »Und hier.« Sie drückte gegen meine Hüfte, worauf ich mich drehte. »Siehst du? Du musst den richtigen Ansatzpunkt für deine Kraft finden, sonst ist sie verschwendet. Kraft zu verschwenden widerspricht dem Geist des Lethani.«
»Ja, Shehyn.«
Sie hob die Hände und nahm wieder die Haltung des Fallenden Reihers ein, bei dessen Ausführung ich sie zuvor unterbrochen hatte. »Mach den Aufwärtsdonner. Wo ist meine Wurzel?«
Ich zeigte auf ihren fest auf dem Boden stehenden Fuß.
»Und mein Blatt?«
Ich zeigte auf ihre Hände.
»Nein. Das Blatt geht von hier bis da.« Sie zeigte auf ihren ganzen Arm und führte vor, wie sie mit den Händen, Ellbogen oder Schultern zuschlagen konnte. »Wo ist der Ast?«
Ich überlegte lange, dann klopfte ich auf ihr Knie.
Ich spürte ihr Erstaunen, obwohl sie keine Miene verzog. »Und wo noch?«
Ich klopfte auf die gegenüberliegende Achsel und dann die Schulter.
»Zeig es mir.«
Ich trat vor sie hin, stellte ein Bein gegen ihr Knie, vollführte die Bewegungen des Aufwärtsdonners und warf sie zur Seite. Zu meiner Überraschung brauchte ich dazu nur ganz wenig Kraft.
Doch statt durch die Luft zu fliegen und zu fallen hielt Shehyn sich an meinem Unterarm fest. Ein Ruck lief durch meinen Arm, und ich trat stolpernd einen Schritt zur Seite. Statt zu fallen nutzte Shehyn ihren Griff als Hebel und landete mit den Füßen voran. Anschließend machte sie einen einzigen, vollkommenen Schritt und hatte sich wieder gefangen.
Einen langen Augenblick sah sie mich nachdenklich an, dann wandte sie sich zum Gehen und bedeutete mir, ihr zu folgen.
Kapitel 111
Ein Lügner und Dieb
W ir kehrten zu der Gruppe steinerner Bauten zurück. Dort sahen wir Tempi vor der Tür. Er trat nervös von einem Bein auf das andere, was meine Vermutung bestätigte. Nicht er hatte Shehyn geschickt, um mich zu prüfen. Sie hatte mich selbst gefunden.
Als wir vor ihm standen, hielt er Shehyn mit der rechten Hand sein Schwert hin. Die Spitze zeigte nach unten. Mit der linken Hand machte er die Bewegung für
tiefsten Respekt.
»Shehyn«, begann er, »ich …«
Shehyn bedeutete ihm, ihr in das niedrige Steinhaus zu folgen. Zugleich winkte sie einem kleinen Jungen. »Hol Carceret.« Der Junge rannte los.
Neugier,
ließ ich Tempi mit einer Handbewegung wissen.
Er sah mich nicht an.
Sehr ernst. Aufpassen.
Die Gesten trugen nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Tempi hatte sie auch damals auf dem Weg nach Crosson gemacht, als wir einen Hinterhalt befürchtet
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