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Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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vorsichtig.«
    »Ja. Seid Ihr Shehyn?«
    Sie nickte. »Wann kam dir dieser Verdacht?«
    »Als Ihr mich nach dem Ketan fragtet. Und wann kam Euch der Verdacht, ich könnte mehr wissen, als ein Barbar wissen darf?«
    »Als ich dich gehen sah.«
    Eine Pause entstand.
    »Warum tragt Ihr nicht Rot wie die anderen Krieger, Shehyn?«
    Shehyn machte einige mir unbekannte Gesten. »Hat dein Lehrer dir gesagt, warum die Adem Rot tragen?«
    »Ich habe nicht daran gedacht, ihn zu fragen«, antwortete ich. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, Tempi sei ein nachlässiger Lehrer gewesen.
    »Dann frage ich dich jetzt.«
    Ich überlegte. »Damit ihre Feinde es nicht merken, wenn sie bluten?«
    Zustimmung.
»Warum trage ich dann Weiß?«
    Mir fiel nur eine Antwort ein. Ein Schauer überlief mich. »Weil Ihr nicht blutet.«
    Shehyn nickte. »Einerseits. Aber auch, weil ein Gegner, wenn er mir eine Verletzung zufügt, mein Blut als seine gerechte Belohnung sehen soll.«
    Ich verbarg meine innere Unruhe und bemühte mich, nach außen gefasst zu wirken wie die Adem. Nach einer angemessenen Pause fragte ich: »Und was wird jetzt aus Tempi?«
    »Das ist noch nicht entschieden.« Shehyn machte eine fast gereizte Handbewegung. »Machst du dir um dich keine Sorgen?«
    »Weniger als um Tempi.«
    Die Blätter des Schwertbaums kreiselten im Wind. Sie zogen den Blick geradezu hypnotisch an.
    »Wie weit bist du in deiner Ausbildung fortgeschritten?«, fragte Shehyn.
    »Ich beschäftige mich seit einem Monat mit dem Ketan.«
    Shehyn stellte sich mir gegenüber und hob die Hände. »Bist du bereit?«
    Sie war einen halben Kopf kleiner als ich, dachte ich unwillkürlich, und hätte meine Großmutter sein können. Mit ihrer schiefen gelben Mütze sah sie nicht besonders furchterregend aus. »Vielleicht«, sagte ich und hob ebenfalls die Hände.
    Shehyn kam langsam näher und machte die Messerhände. Ich parierte mit einem Regenfänger. Dann machte ich das Klettereisen und den Einwärtsschwung, kam aber nicht an Shehyn heran. Sie reagierte rasch und führte gleichzeitig einen Wendeatem und einen Vorwärtsschlag aus. Den Wendeatem konnte ich mit einem Wasserfächer aufhalten, gegen den Vorwärtsschlag kam ich zu spät. Shehyn berührte mich unterhalb des Brustkorbs und an der Schläfe, nur ganz leicht, wie man etwa jemandem einen Finger an die Lippen legt.
    Egal, was ich versuchte, ich kam nicht gegen sie an. Ich vollführte einen Schleuderblitz, doch sie trat nur zur Seite und machte sich nicht einmal die Mühe, etwas darauf zu erwidern. Ein oder zwei Mal kam ich so nah an sie heran, dass ich den Stoff ihres weißenKittels an meinen Händen spürte, aber mehr nicht. Ich kam mir vor, als versuchte ich, ein herunterhängendes Stück Schnur zu treffen.
    Ich biss die Zähne zusammen und griff mit einer nahtlos ineinander übergehenden Schlagfolge von Weizendrescher, Mostpresse und Mutter am Bach an.
    Ich war noch nie jemandem begegnet, der sich bewegte wie Shehyn. Es lag nicht daran, dass sie schnell gewesen wäre. Das war sie auch, aber es war nicht entscheidend. Sie bewegte sich mit vollendeter Sicherheit, machte nie zwei Schritte, wo einer ausreichte, nie eine größere Bewegung, wenn eine kleinere genügte. Sie zeigte eine geradezu märchenhafte Anmut und bewegte sich noch geschmeidiger und eleganter, als Felurian getanzt hatte.
    In der Hoffnung, sie zu überrumpeln und mein Können zu beweisen, setzte ich alles auf eine Karte, griff sie mit der Tanzenden Jungfrau an, mit dem Spatzenfänger, den Fünfzehn Wölfen …
    Shehyn konterte mit einem einzigen, vollkommenen Schritt.
    »Warum weinst du?«, fragte sie, während sie einen Fallenden Reiher ausführte. »Schämst du dich? Hast du Angst?«
    Ich blinzelte die Tränen aus meinen Augen. Meine Stimme war heiser vor Anstrengung und Erregung. »Ihr seid schön, Shehyn. Ihr vereint den Stein der Mauer, das Wasser des Bachs und die Bewegung des Baumes in Euch.«
    Shehyn sah mich verblüfft an, und ich nutzte das Überraschungsmoment und packte sie fest an Schulter und Arm. Ich führte einen Aufwärtsdonner aus, doch statt umzufallen, stand Shehyn nur stocksteif und unbeweglich wie ein Stein da.
    Fast abwesend machte sie sich mit einem Löwenbrecher von mir los und vollführte einen Weizendrescher. Ich flog zwei Meter durch die Luft und landete auf dem Boden.
    Sofort sprang ich wieder auf, denn ich hatte mir nicht wehgetan. Das weiche Gras hatte meinen Sturz abgefedert. Außerdem hatte Tempi mir gezeigt,

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