Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
Tempi.«
Er schüttelte den Kopf. »Du hast einen weiten Weg zurückgelegt, ohne dich zu beklagen, und dadurch gezeigt, dass dein Wille stärker ist als dein Körper. Das ist gut. Dass der Wille den Körper beherrscht, entspricht dem Geist des Lethani. Doch auch die eigenen Grenzen zu kennen ist Lethani. Besser man hält an, wenn es sein muss, als man geht bis zum Umfallen weiter.«
»Es sei denn, das Umfallen wäre im Geist des Lethani«, sagte ich, ohne nachzudenken. Mein Kopf schien immer noch so leicht wie ein vom Wind getragenes Blatt.
Tempi schenkte mir ein seltenes Lächeln und nickte. »Du beginnst zu verstehen, was Lethani ist.«
Ich erwiderte sein Lächeln. »Und du sprichst schon sehr gut Aturisch, Tempi.«
Er sah mich besorgt an. »Wir sprechen gerade meine Sprache, nicht deine.«
»Aber ich …«, setzte ich an und hörte die Worte, die ich sprach.
Sceopa teyas.
Einen kurzen Augenblick erfasste mich Schwindel.
»Trink noch etwas Wasser«, sagte Tempi. Obwohl seine Miene und Stimme keine Gefühlsregung erkennen ließen, spürte ich doch, dass er sich Sorgen machte.
Ihm zuliebe nahm ich noch einen Schluck. Dann, als habe mein Körper erkannt, dass er Wasser brauchte, hatte ich plötzlich sehr großen Durst und nahm einige große Schlucke. Ich hörte auf, bevor ich zuviel trank und Magenkrämpfe bekam. Tempi nickte,
Billigung
.
»Spreche ich nicht schon ganz gut?«, sagte ich, um mich von meinem Durst abzulenken.
»Für ein Kind ja und auch für einen Barbaren.«
»Nicht besser? Benütze ich die falschen Wörter?«
»Du siehst dein Gegenüber zu oft an.« Tempi riss die Augen auf und starrte mich unverwandt an. »Und die Wörter, die du benutzt, sind gut, aber einfach.«
»Dann musst du mir mehr beibringen.«
Er schüttelte den Kopf.
Im Ernst.
»Du weißt schon zu viele.«
»Zu viele? Ich kenne doch nur ganz wenige.«
»Es kommt nicht so sehr auf die Wörter an als auf ihre Verwendung. In Adem ist das Sprechen eine Kunst. Manche können miteinem Wort sehr vieles sagen, zum Beispiel Shehyn. Sie sagen etwas, und andere brauchen ein ganzes Jahr, um die Bedeutung auszuschöpfen.«
Sanfter Tadel.
»Du sagst oft mehr als notwendig. Du solltest das Ademische nicht verwenden wie das Aturische in deinen Liedern. Dort rühmst du eine Frau mit hundert Worten. Zu viele. Wir reden sparsamer.«
»Wenn ich eine Frau kennen lerne, soll ich also nur sagen: ›Du bist schön‹?«
Tempi schüttelte den Kopf. »Nein, du sagst nur ›schön‹ und lässt die Frau entscheiden, was du damit meinst.«
»Aber ist das nicht zu …« Ich kannte die Worte für »schwammig« und »ungenau« nicht und musste deshalb noch einmal neu ansetzen. »Führt das nicht zu Missverständnissen?«
»Es fördert die Aufmerksamkeit«, erwiderte Tempi entschieden. »Man deutet nur an. Man sollte beim Reden immer darauf achten, nicht zu viele Worte zu machen.« Er schüttelte den Kopf.
Missbilligung.
»Das ist …« Er suchte nach einem Wort.
»Unhöflich?«
Verneinung, Ungeduld.
»Ich gehe nach Severen, und dort gibt es Menschen, die stinken, und welche, die nicht stinken. Beide sind Menschen, aber die, die nicht stinken, sind Menschen einer besseren Qualität.« Er klopfte mir mit zwei Fingern auf die Brust. »Du bist kein Ziegenhirte, sondern ein Schüler des Lethani. Mein Schüler. Du musst sprechen wie diese besseren Menschen.«
»Und wie steht es um die Klarheit? Wenn man etwa eine Brücke bauen will, braucht man dazu viele Teile und muss alle eindeutig benennen können.«
»Natürlich.«
Zustimmung.
»Manchmal ist das notwendig. Aber bei vielen anderen, wichtigen Dingen ist es besser, nur anzudeuten, sparsam zu sein.«
Tempi fasste mich an der Schulter, hob den Kopf, sah mir in die Augen und hielt meinen Blick einen kurzen Moment lang, was er sonst nie tat. Dann lächelte er still.
»Stolz«, sagte er.
Der restliche Tag galt der Erholung. Wir gingen einige Meilen, machten die Übungen des Ketan, sprachen über Lethani und gingen wieder. Abends kehrten wir in einer an der Straße gelegenen Herberge ein. Dort aß ich für drei und fiel ins Bett, noch bevor die Sonne untergegangen war.
Am nächsten Tag gingen wir zur gewohnten Abfolge über, machten aber nur je zwei Durchgänge am Vormittag und am Nachmittag. Mein Körper brannte und schmerzte, aber mir war nicht mehr schwindlig vor Erschöpfung. Glücklicherweise gelang es mir mit ein wenig gedanklicher Anstrengung, jenen seltsam hellsichtigen geistigen Zustand
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