Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
des kurzen Gesprächs begann der nächste Durchgang.
Einmal machte ich während unseres Gesprächs über Lethani die Handbewegung für
Untertreibung.
Tempi unterbrach mich, indem er die Hand auf meine legte.
»Wenn wir über Lethani sprechen, darfst du keine der folgendenGesten machen.« Er machte rasch die Handbewegungen für
Aufregung
und
Ablehnung
und einige weitere, die ich nicht kannte.
»Warum nicht?«
Er überlegte kurz. »Wenn du über Lethani sprichst, darf es nicht von hier kommen.« Er klopfte an meine Stirn. »Und auch nicht von hier.« Er klopfte auf die Stelle über meinem Herzen und fuhr mit den Fingern zu meiner linken Hand hinunter. »Das wahre Wissen über Lethani liegt tiefer. Etwa hier.« Er klopfte mir auf den Bauch unterhalb des Bauchnabels. »Du musst von hier sprechen, ohne nachzudenken.«
Nach und nach begriff ich, welchen unausgesprochenen Regeln unsere Gespräche folgten. Ich sollte nicht nur lernen, was Lethani war, sondern zugleich zeigen, wie tief der Geist des Lethani bereits in mir verwurzelt war.
Das heißt, Fragen waren schnell zu beantworten und ohne die sonst für Gespräche auf Ademisch charakteristischen absichtlichen Pausen. Ich sollte keine überlegten Antworten geben, sondern aufrichtige und ernsthafte. Wie gut jemand Lethani verstand, zeigte sich in seinen Antworten.
Bis zur Mittagspause absolvierten wir die Einheit aus Dauerlauf, Ketan, Marsch und Gespräch drei Mal. Sechs Stunden brauchten wir dazu. Ich war schweißgebadet und halbtot vor Erschöpfung. Anschließend ruhten wir eine Stunde aus und aßen etwas. Bis zum Abend folgten weitere drei Durchgänge.
Am Rand der Straße bezogen wir unser Lager für die Nacht. Beim Abendessen schlief ich schon fast. Anschließend breitete ich meine Decke aus und wickelte mich in meinen Schattenmantel. Er kam mir in meiner Erschöpfung so weich und warm wie eine Eiderdaunendecke vor.
Mitten in der Nacht weckte Tempi mich. Obwohl ein animalischer Teil in mir ihn dafür hasste, wusste ich, sobald ich mich bewegte, dass es notwendig war. Mein ganzer Körper war steif und schmerzte. Erst die vertrauten langsamen Bewegungen des Ketan lockerten meine verspannten Muskeln. Ich musste mich strecken und Wasser trinken. Anschließend schlief ich den Rest der Nacht wie ein Stein.
Der zweite Tag war noch schlimmer. Meine Laute wurde zu einer schrecklichen Last, obwohl ich sie mir fest auf den Rücken geschnallt hatte. Das Schwert, mit dem ich ja gar nicht umgehen konnte, zog an meiner Hüfte, und mein Reisesack hing so schwer an mir wie ein Mühlstein. Ich bereute, dass ich Dedan nicht die Geldkassette des Maer mitgegeben hatte. Meine Muskeln waren weich wie Wachs und gehorchten mir nicht, der Atem brannte mir beim Laufen im Hals.
Ausruhen konnte ich nur während der Gespräche mit Tempi über Lethani, doch waren sie enttäuschend kurz. In mir drehte sich alles vor Erschöpfung, und es kostete mich meine ganze Kraft, meine Gedanken zu ordnen und die richtigen Antworten zu geben. Trotzdem ärgerten meine Antworten Tempi nur. Er schüttelte in einem fort den Kopf und erklärte, warum ich unrecht hatte.
Endlich gab ich es auf, das Richtige sagen zu wollen. Vor Müdigkeit war mir alles egal. Ich versuchte nicht mehr, meine Gedanken zu ordnen, und freute mich lediglich daran, eine kurze Weile sitzen zu können. Vor lauter Erschöpfung vergaß ich oft gleich wieder, was ich gesagt hatte, aber Tempi schienen meine Antworten zu meiner Überraschung besser zu gefallen. Für mich war das ein Segen. Denn wenn meine Antworten ihm gefielen, dauerten unsere Gespräche länger, und ich konnte länger ausruhen.
Am dritten Tag ging es mir deutlich besser. Die Muskeln taten mir nicht mehr so weh, und das Atmen fiel mir leichter. Mein Kopf war ganz klar und leicht wie ein im Wind schwebendes Blatt. In dieser Verfassung gingen mir die Antworten auf Tempis Fragen so leicht von der Zunge wie ein Lied.
Wieder absolvierten wir die Abfolge aus Laufen, Ketan, Marschieren und Gespräch drei Mal. Beim letzten Ketan am Straßenrand brach ich zusammen.
Tempi, der mich aufmerksam beobachtet hatte, fing mich auf, bevor ich den Boden berührte. Alles drehte sich eine Weile um mich herum, bis ich schließlich merkte, dass ich im Schatten eines Baumes neben der Straße lag. Tempi musste mich dorthin getragen haben.
Er hielt mir meinen Wasserschlauch hin. »Trink.«
Ich hatte eigentlich gar keine Lust auf Wasser, nahm aber trotzdem einige Schlucke. »Tut mir leid,
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