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Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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wiederherzustellen, in dem ich am Tag zuvor Tempis Fragen beantwortet hatte.
    In den folgenden Tagen fiel mir auch ein Name dafür ein: Kreiselndes Blatt.
    Er erschien mir als ferner Verwandter des Steinernen Herzens, jener geistigen Übung, die ich vor so langer Zeit gelernt hatte. Die Unterschiede waren freilich groß. Das Steinerne Herz diente einem praktischen Zweck, nämlich der geistigen Konzentration unter Ausschluss aller Gefühle. Es half mir, mein Bewusstsein in verschiedene Teile aufzuspalten oder das so überragend wichtige Alar herzustellen.
    Das Kreiselnde Blatt schien dagegen keinem bestimmten Zweck zu dienen. Es war entspannend, das Bewusstsein wachsen zu lassen, bis es ganz klar und leer war, und dann schwerelos von einem Ding zum anderen zu schweben. Doch abgesehen davon, dass es mir half, Tempis Fragen ohne weiteres Nachdenken zu beantworten, sah ich darin keinen praktischen Wert. Es kam mir vor wie die geistige Entsprechung eines Kartentricks.
    Am achten Tag unseres Marsches verschwanden die ständigen Schmerzen, und Tempi fügte der Abfolge ein neues Element hinzu. Nach den Übungen des Ketan kämpften wir. Da der Ketan mich am meisten anstrengte, fiel mir das besonders schwer, doch nach dem Kämpfen setzten wir uns immer, ruhten aus und sprachen über Lethani.
    »Warum hast du gelächelt, als wir heute gekämpft haben?«, fragte Tempi etwa.
    »Weil ich glücklich war.«
    »Das Kämpfen hat dir Freude bereitet?«
    »Ja.«
    Tempi bekundete sein Missfallen. »Das widerspricht dem Geist des Lethani.«
    Ich überlegte einen Moment. »Man soll sich nicht am Kampf freuen?«
    »Nein. Man freut sich daran, richtig zu handeln und dem Lethani zu folgen.«
    »Und wenn das erfordert, dass ich kämpfe? Sollte ich mich dann nicht freuen?«
    »Nein. Die Freude besteht allein darin, dem Lethani zu folgen. Wer gut kämpft, soll stolz darauf sein, etwas gut zu machen. Aber kämpfen soll man nur aus Pflichtgefühl und mit Bedauern. Nur Barbaren und Verrückte freuen sich daran. Wer den Kampf um seiner selbst willen liebt, ist weit vom Lethani entfernt.«

     
    Am elften Tag zeigte Tempi mir, wie man das Schwert in den Ketan einbezieht. Als Erstes lernte ich, wie schnell ein Schwert bleischwer wird, wenn man es auf Armeslänge von sich weg hält.
    Ein Durchgang dauerte nun mit dem Übungskampf und unter Einbeziehung des Schwertes zweieinhalb Stunden. Trotzdem behielten wir unser tägliches Pensum bei: drei Durchgänge vor dem Mittagessen und drei danach, insgesamt fünfzehn Stunden. Ich spürte, wie ich meinen Körper stählte und er geschmeidig und hager wurde wie der von Tempi.
    So gingen die Tage dahin. Ich lernte, und Haert rückte stetig näher.

Kapitel 110

Schönheit und Ast
     
    I n den Ortschaften, durch die wir kamen, hielten wir nur an, um Proviant und Wasser aufzufüllen. Auch von der Landschaft bekam ich nicht viel mit, so sehr war ich mit Ketan, Lethani und der fremden Sprache beschäftigt.
    Wir erreichten die ersten, felsigen Ausläufer des Gebirges, und die Straße wurde schmaler und führte im Zickzack an tiefeingeschnittenen Schluchten, Steilhängen und den Trümmern zerborstener Felsen vorbei. Auch das Klima war hier anders, und es wurde unerwartet kühl für den Sommer.
    Wir schafften die Reise in fünfzehn Tagen. In dieser Zeit legten wir meiner Schätzung nach fast dreihundert Meilen zurück.
    Haert war das erste Dorf der Adem, das ich kennenlernte, und für mein unerfahrenes Auge sah es überhaupt nicht wie ein Dorf aus. Es gab keine Hauptstraße, die von Häusern und Läden gesäumt gewesen wäre. Die Häuser, die ich sah, lagen weit auseinander, waren seltsam gebaut und so sehr an ihre Umgebung angepasst, als wollten sie sich verbergen.
    Ich wusste damals noch nicht, dass hier häufig die heftigen Stürme tobten, von denen das Gebirge seinen Namen hatte. Die plötzlich umschlagenden Böen hätten alle mehrstöckigen, rechteckigen Holzhäuser, wie ich sie aus dem Tiefland kannte, zerstört.
    Die Adem bauten ihre Häuser deshalb oft an windgeschützten Bergflanken oder Felswänden, an denen Unwetter ihnen nichts anhaben konnten. Einige befanden sich sogar unter der Erde, andere waren in den Fels gehauen. Manche sah man erst, wenn man direkt davor stand.
    Die einzige Ausnahme war eine etwas entfernt von der Straße gelegene Gruppe niedriger Steinbauten.
    Vor dem größten hielten wir. Tempi sah mich an und zupfte nervös an den Lederriemen, mit denen sein roter Kittel an den Ärmeln umwickelt

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