Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
nirgendwo sonst lernen konnte, was ich lernen wollte. Mit Peitschenhieben konnte man mich nicht vertreiben.«
Ich nahm das schwere Holzschwert in die Hand. »Ich dachte, dass du das wissen solltest. Man kann mir mit der Androhung von Schmerzen keine Angst machen. Tempi hat mir vertraut, deshalb werde ich ihn nicht im Stich lassen. Ich will bestimmte Dinge lernen, und das kann ich nur hier.«
Ich gab Vashet das Schwert. »Wenn du willst, dass ich gehe, musst du mich schon schlimmer verletzen.«
Ich trat einen Schritt zurück und ließ die Arme hängen. Dann schloss ich die Augen.
Kapitel 113
Die Zunge eines Barbaren
I ch würde ja gerne behaupten, ich hätte die Augen geschlossen gehalten, aber das wäre gelogen. Als ich die Sohlen von Vashets Schuhen auf dem Boden knirschen hörte, öffnete ich sie unwillkürlich wieder.
Ich spähte nicht heimlich, das hätte kindisch gewirkt. Nein, ich machte sie ganz auf. Vashet erwiderte meinen Blick und sah mich länger an als Tempi in einer ganzen Spanne. Ihre hellgrauen Augen funkelten hart aus ihrem anmutigen Gesicht. Die gebrochene Nase wirkte nicht mehr fehl am Platz, sondern wie eine grimmige Warnung an alle, die mit Vashet zu tun bekamen.
Ein Windstoß fuhr zwischen uns hindurch, und ein Frösteln überlief meine nackten Arme.
Vashet holte resigniert Luft und zuckte mit den Schultern. Sie drehte das Holzschwert um und packte es am Griff. Nachdenklich schwang sie es mit beiden Händen hin und her, um ein Gefühl für sein Gewicht zu bekommen. Dann hob sie es hoch und schlug zu.
Nein, sie schlug nicht zu.
»Also gut, du kleine Rotznase!«, seufzte sie entnervt. »Also gut! Himmel und Donner! Zieh dein Hemd wieder an. Mir wird kalt, wenn ich dich sehe.«
Ich sank auf die Bank. »Gott sei Dank«, murmelte ich und begann mein Hemd wieder anzuziehen, was schwierig war, weil mir die Hände zitterten. Und zwar nicht vor Kälte.
Vashet sah es. »Ich wusste es!«, rief sie triumphierend und zeigte auf mich. »Du hast hier gestanden, als würdest du gleich gehenkt. Ich wusste, dass du wie ein Wiesel davongerannt wärst!« Verärgertstampfte sie mit dem Fuß auf. »Ich wusste es, ich hätte zuschlagen sollen!«
»Ich bin froh, dass du es nicht getan hast«, sagte ich. Ich hatte mein Hemd angezogen, allerdings verkehrt herum, wie ich nun erst feststellte. Ich beschloss, es lieber anzulassen als noch einmal über meinen brennenden Rücken zu ziehen.
»Woran hast du gemerkt, dass ich nicht zuschlagen würde?«, wollte sie wissen.
»An nichts. Du hast es durch nichts verraten.«
»Aber woher wusstest du es dann?«
»Durch Überlegen«, sagte ich. »Wenn Shehyn wirklich gewollt hätte, dass ich gehe, hätte sie mich nur wegzuschicken brauchen. Genauso leicht wäre es gewesen, mich zu töten.«
Ich rieb mir die verschwitzten Hände an der Hose ab. »Daraus folgte, dass du mich wirklich als Lehrerin unterrichten solltest. Und dann gab es nur drei Erklärungen für dein Verhalten.« Ich hob einen Finger. »Es handelte sich entweder um eine Art Initiation.« Ich hob den zweiten Finger. »Oder eine Prüfung meiner Entschlossenheit …«
»Oder ich sollte dich wirklich von hier vertreiben«, sprach Vashet zu Ende und setzte sich auf die Bank mir gegenüber. »Aber wenn ich es nun ernst gemeint und dich blutig geschlagen hätte?«
Ich zuckte die Achseln. »Dann hätte ich wenigstens gewusst, woran ich bin. Doch es erschien mir unwahrscheinlich. Wenn Shehyn das gewollt hätte, hätte sie Carceret damit beauftragt.« Ich legte den Kopf schief. »Nur aus Neugier: worum ging es? Um Initiation oder Prüfung meiner Entschlossenheit? Und muss jeder eine solche Prüfung bestehen?«
Vashet schüttelte den Kopf. »Um deine Entschlossenheit. Ich musste sicher sein, dass ich meine Zeit nicht mit einem Feigling verschwende, der bei jedem Klaps gleich in die Hose macht. Außerdem musste ich wissen, dass du es ernst meinst.«
Ich nickte. »Diese Erklärung erschien mir auch am wahrscheinlichsten. Und ich wollte meinem Rücken weitere Striemen ersparen und die Entscheidung beschleunigen.«
Vashet musterte mich mit unverhohlener Neugier. »Ich hatte zugegebenermaßennoch nie einen Schüler, der ein solches Wagnis einging, um sich als meiner würdig zu erweisen.«
»Das war noch gar nichts«, erwiderte ich gelassen. »Einmal bin ich für so etwas sogar von einem Dach gesprungen.«
Wir plauderten eine Stunde lang über alles Mögliche, und die Spannung zwischen uns löste sich
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