Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
es ist unmöglich.«
Sie hob einen Finger. »Aber nur ein Narr würde behaupten, es gäbe die Liebe deshalb nicht. Es gibt sie, sobald zwei junge Wesen einander mit feuchten Augen anblicken. Man kann sie förmlich mit Händen greifen. Dasselbe gilt für Mutter und Kind. Sobald es im Bauch kribbelt, weiß man, sie ist da, auch wenn man es nicht in Worte fassen kann.«
Sie sah mich triumphierend an. »Und genauso ist es mit Lethani. Nur ist Lethani etwas noch Größeres und deshalb noch schwieriger zu beschreiben. Darin besteht der Sinn der Fragen. Man stellt sie, wie man ein Mädchen nach dem Jungen fragt, den es mag. Das Wort›Liebe‹ kommt in ihrer Antwort vielleicht gar nicht vor, aber ihre Antwort zeigt, ob sie ihn liebt oder nicht.«
»Aber wie können meine Antworten irgendwelche Kenntnisse über Lethani verraten, wenn ich gar nicht weiß, um was es sich handelt?«, fragte ich.
»Du bist ganz gewiss mit Lethani vertraut«, erwiderte Vashet. »Es ist tief in dir verwurzelt, so tief, dass du es nicht siehst. Manchmal geht es einem mit der Liebe ähnlich.«
Sie streckte die Hand aus und klopfte mir an die Stirn. »Aber zu deinem Kreiselnden Blatt. Wie ich gehört habe, werden von anderen Schulen ähnliche Dinge praktiziert. Im Aturischen gibt es meines Wissens kein Wort dafür. Es handelt sich um eine Art Ketan des Bewusstseins zur Übung des Denkens.«
Sie machte eine abschließende Handbewegung. »Jedenfalls ist es kein Betrug. Du zeigst, was in den Tiefen deines Geistes verborgen ist. Dass du von selbst auf diese Technik gekommen bist, ist bemerkenswert.«
Ich nickte. »Ich beuge mich deiner Weisheit, Vashet.«
»Du beugst dich der Tatsache, dass ich unbestreitbar recht habe.«
Sie klatschte in die Hände. »Du kannst viel von mir lernen. Aber da dein Rücken noch wund ist, wollen wir heute auf den Ketan verzichten. Führe mir stattdessen dein Ademisch vor. Lass hören, wie du meine schöne Sprache mit deiner groben, barbarischen Zunge verunstaltest.«
In den folgenden Stunden erfuhr ich eine Menge über das Ademische. Ich genoss es, ausführlich fragen zu können und verständliche und aufschlussreiche Antworten zu erhalten. Nach wochenlangem Tasten im Dunkeln kam mir diese Art zu lernen fast schon verboten leicht vor.
Doch Vashet gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass meine Gebärdensprache beschämend primitiv war. Zwar konnte ich mich verständlich machen, aber höchstens auf dem Niveau eines Kleinkinds. Im schlimmsten Fall hörte ich mich an wie ein wild drauflos brabbelnder Verrückter.
»Jetzt klingst du in etwa so.« Vashet stand auf, fuchtelte mit den Händen über ihrem Kopf herum und zeigte mit den Daumen auf sich. »Ich gut kämpfen.« Sie grinste dümmlich. »Mit Schwert!« Sie schlug sich mit den Fäusten an die Brust und hüpfte wie ein aufgeregtes Kind auf und ab.
»Ach komm«, protestierte ich verlegen. »So schlimm ist es nicht.«
»Aber fast«, entgegnete Vashet ernst und setzte sich wieder. »Wenn du mein Sohn wärst, würde ich dich nicht aus dem Haus lassen. Als mein Schüler ist deine einzige Entschuldigung, dass du ein Barbar bist. Es kommt mir vor, als hätte Tempi einen Hund mitgebracht, der pfeifen kann. Dass du auch noch falsch pfeifst, spielt dabei keine Rolle mehr.«
Sie tat, als wollte sie aufstehen. »Aber wenn es dir reicht, wie ein Dummkopf zu sprechen, brauchst du es nur zu sagen. Dann wenden wir uns anderen Dingen zu …«
Ich beeilte mich zu versichern, dass ich unbedingt besser sprechen lernen wollte.
Vashet nickte. »Zunächst einmal sagst du zu viel und sprichst zu laut. Das Ademische besteht in seinem Kern aus Stille und Schweigen. Die Sprache spiegelt das. Zweitens musst du viel genauer darauf achten, wann du welche Gebärden verwendest. Sie relativieren bestimmte Worte und Gedanken und verstärken nicht immer, was du sagst. Manchmal stehen sie auch absichtlich im Widerspruch dazu.«
Vashet machte in rascher Folge sieben oder acht verschiedene Gesten. Alle bedeuteten Belustigung, doch jeweils in einer anderen Schattierung. »Außerdem musst du auch die feinen Bedeutungsnuancen kennen, den Unterschied zwischen rank und schlank, wie mein Dichterkönig zu sagen pflegte. Bisher hast du nur ein einziges Lächeln, und damit macht man unweigerlich einen einfältigen Eindruck.«
Wir arbeiteten mehrere Stunden lang, und ich lernte etwas, das Tempi mir nie richtig hatte erklären können. Aturisch war wie ein großer, flacher Teich. Es bestand aus
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