Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
darunter. Was manchen Schulen als heilig gilt, wird von anderen verachtet.«
Sie musterte mich nachdenklich. »Du sollst gesagt haben, Lethani käme vom selben Ort wie das Lachen. Stimmt das?«
Ich nickte.
»Eine gute Antwort. Mein Lehrer auf dem Weg der Freude hat einmal genau dasselbe zu mir gesagt.« Vashet runzelte die Stirn. »Aber du siehst mich so zweifelnd an. Warum?«
»Ich würde es dir ja sagen, aber dann hältst du mich bestimmt für dumm.«
»Ich würde dich für dumm halten, wenn du mir als deiner Lehrerin etwas verheimlichst«, erwiderte sie ernst. »Wir müssen einander vertrauen.«
Ich seufzte. »Also gut. Ich freue mich, dass dir meine Antwort gefällt, aber ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was sie bedeutet.«
»Danach habe ich dich ja auch nicht gefragt«, meinte Vashet unbekümmert.
»Ich habe sie nur aus Quatsch gesagt«, fuhr ich fort. »Ich weiß, dass Lethani für euch sehr wichtig ist, aber ich selber verstehe es nicht. Ich tu nur so als ob.«
Vashet lächelte nachsichtig. »Das geht nicht«, sagte sie überzeugt. »Genauso wenig wie beim Schwimmen. Man merkt, ob es einer kann.«
»Man kann auch beim Schwimmen nur so tun als ob«, erwiderte ich. »Ich bewege nur die Arme und gehe in Wirklichkeit auf dem Grund des Flusses entlang.«
Vashet musterte mich mit einem eigentümlichen Blick. »Also gut. Wie willst du uns denn getäuscht haben?«
Ich erklärte meine Technik des Kreiselnden Blattes und wie ich gelernt hatte, meine Gedanken in einen ganz leichten, schwerelosen Zustand zu versetzen, in dem mir Antworten auf alle möglichen Fragen einfielen.
»Du hast die Antworten also von dir selbst geklaut«, sagte Vashet mit gespieltem Ernst. »Du hast uns getäuscht, indem du dir selbst Antworten ausgedacht hast.«
»Du verstehst mich nicht«, erwiderte ich ein wenig gereizt. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was Lethani sein könnte! Es ist angeblich kein Weg, hilft aber, einen Weg zu wählen. Dann wieder ist es der einfachste Weg, aber nicht einfach zu finden. Ihr klingt für mich ehrlich gesagt ein wenig wie betrunkene Kartographen.«
Ich bereute meine Worte, kaum dass ich sie gesagt hatte, aber Vashet lachte nur. »Es gibt viele Betrunkene, die eine Menge von Lethani verstehen«, sagte sie, »darunter einige geradezu legendäre Gestalten.«
Weil sie merkte, dass ich noch immer aufgeregt war, machte sie eine beruhigende Handbewegung. »Auch ich verstehe Lethani nicht, jedenfalls nicht so, dass ich es einem anderen erklären könnte. Lethani zu unterrichten ist eine Gabe, die mir fehlt. Wenn Tempi einen Sinn dafür in dir wecken konnte, ist das ein großes Verdienst.«
Sie beugte sich vor. »Deine Schwierigkeiten haben auch mit deiner Sprache zu tun«, sagte sie. »Aturisch ist sehr eindeutig und klar. In unserer Sprache schwingt viel mehr mit, wir tun uns deshalb leichter mit der Vorstellung von Dingen, die man nicht erklären kann. Von diesen Dingen ist Lethani das Wichtigste.«
»Und was gehört noch dazu?«, fragte ich. »Sag jetzt bitte nicht ›blau‹, sonst werde ich hier auf dieser Bank auf der Stelle wahnsinnig.«
Vashet überlegte. »Zum Beispiel die Liebe. Wir kennen sie, können sie aber nicht erschöpfend beschreiben.«
»Liebe ist ein schwieriger Begriff«, gab ich zu. »Sie ist wie die Gerechtigkeit schwer zu fassen, aber man kann sie definieren.«
In Vashets Augen trat ein Funkeln. »Dann tu das bitte, mein kluger Schüler. Definiere die Liebe.«
Ich überlegte, erst kurz, dann lange.
Vashet grinste. »Du ahnst, dass ich jede Erklärung, die du gibst, mit Leichtigkeit widerlegen kann.«
»Liebe ist die Bereitschaft, für einen anderen alles zu tun«, sagte ich. »Selbst wenn einem dadurch ein Nachteil entsteht.«
»Was unterscheidet die Liebe dann von Treue und Pflichtbewusstsein?«
»Sie ist außerdem mit körperlicher Anziehung verbunden«, sagte ich.
»Auch die Mutterliebe?«, fragte Vashet.
»Dann eben mit größter Zuneigung«, verbesserte ich mich.
»Und was genau soll das heißen?«, fragte Vashet aufreizend ruhig.
»Zuneigung ist …« Ich verstummte und überlegte verzweifelt, wie ich Liebe ohne Zuhilfenahme anderer, ähnlich abstrakter Begriffe beschreiben konnte.
»So ist das mit der Liebe«, sagte Vashet. »Jeder Versuch einer Beschreibung macht eine Frau ganz kirre. Deshalb finden die Dichter ja auch kein Ende, wenn sie über die Liebe schreiben. Wenn einer sie letztgültig beschreiben könnte, könnten die anderen aufhören. Aber
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