Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
spricht für dich. Und auch, dass du geblieben bist, als ich dich vertreiben wollte. Doch das Versprechen eines Barbaren zählt in so einer Sache nichts.«
»Was soll dann geschehen?« Ich ahnte, wie die Antwort ausfallen würde, und sie gefiel mir nicht.
Vashet holte tief Luft. »Man könnte verhindern, dass du dein Wissenweitergeben kannst, indem man dir die Zunge oder das Augenlicht nimmt«, sagte sie offen. »An der Ausübung des Ketan könnte man dich hindern, indem man dich zum Krüppel schlägt. Man könnte deine Fersensehne durchtrennen oder das Knie deines bevorzugten Beines zertrümmern.« Sie zuckte mit den Schultern. »Mit einem lahmen Bein kann man allerdings immer noch kämpfen. Es wäre also sinnvoller, dir den Ringfinger und den kleinen Finger der rechten Hand abzuschneiden. Dann wäre …«
Sie sprach vollkommen ruhig und sachlich. Wahrscheinlich wollte sie mich damit beruhigen und trösten, doch das Gegenteil war der Fall. Ich konnte nur noch daran denken, dass sie mir seelenruhig die Finger abtrennen würde, wie man etwa ein faules Stück von einem Apfel abschneidet. So lebhaft war die Vorstellung, dass die Ränder meines Gesichtsfeldes zu flimmern begannen und mein Magen rumorte. Ich glaubte schon, ich müsste mich übergeben.
Doch Schwindel und Übelkeit vergingen. Ich kam wieder zu Sinnen und merkte, dass Vashet zu Ende gesprochen hatte und mich anstarrte.
Ich wollte etwas sagen, doch sie hob die Hand. »Ich sehe schon, du bist heute zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich gebe dir den restlichen Abend frei. Ordne deine Gedanken, übe den Ketan oder betrachte den Schwertbaum. Morgen machen wir weiter.«
Ich schlenderte eine Weile ziellos durch die Gegend und versuchte den Gedanken an abgeschnittene Finger zu verdrängen. In einem Wäldchen hinter einer Hügelkuppe stolperte ich fast buchstäblich über ein nacktes Pärchen, das sich dorthin zurückgezogen hatte.
Doch die beiden suchten nicht etwa hastig nach ihren Kleidern, als ich unvermittelt vor ihnen stand, und ich machte erst gar nicht den Versuch, mich in holprigem Ademisch zu entschuldigen, sondern drehte mich nur um und ging. Mein Gesicht brannte vor Scham.
Ich begann den Ketan zu üben, konnte mich aber nicht konzentrieren. Also betrachtete ich den Schwertbaum. Eine Weile beruhigte mich der Anblick der sich anmutig im Wind wiegenden Äste tatsächlich.Doch dann begannen meine Gedanken abzuschweifen, und das Bild Vashets, die mir die Finger abschnitt, trat mir wieder vor Augen.
Der dreimalige Glockenton erklang, und ich kehrte zum Abendessen in die Schule zurück und stellte mich an der Essensschlange an. Die Anstrengung, die es mich kostete, nicht an meine verstümmelte Hand zu denken, machte mich ganz benommen. Plötzlich bemerkte ich, dass meine Nachbarn in der Schlange mich anstarrten. Ein kleines, etwa zehnjähriges Mädchen blickte mit offenem Mund zu mir hoch, und ein Mann im Rot des Söldners sah mich an, als hätte ich mir soeben mit einer Scheibe Brot den Hintern abgewischt und sie anschließend gegessen.
Erst jetzt begriff ich, dass ich vor mich hin summte, nicht laut, aber doch so laut, dass die Umstehenden es hörten. Offenbar summte ich noch nicht lange, denn ich war erst bei der sechsten Zeile von
Verlass die Stadt, Kessler
angelangt.
Ich verstummte, senkte den Blick, nahm mein Tablett und versuchte zehn Minuten lang zu essen. Ich brachte einige wenige Bissen hinunter, mehr nicht. Schließlich gab ich es auf und ging auf mein Zimmer.
Ich legte mich aufs Bett und überlegte, welche Alternativen ich hatte. Wie weit würde ich es zu Fuß schaffen? Konnte ich mich in der Umgebung von Haert verstecken? Oder ein Pferd stehlen? Aber gab es hier in Haert überhaupt Pferde?
Ich holte meine Laute heraus, griff mit der linken Hand einige stumme Akkorde und ließ meine flinken Finger das lange Griffbrett auf und ab wandern. Zu gern hätte ich mit der rechten Hand die Saiten angeschlagen und erklingen lassen. Nur mit der linken zu greifen war so unbefriedigend wie eine Frau mit nur einer Lippe zu küssen. Ich gab es bald wieder auf.
Schließlich holte ich meinen Schattenmantel aus dem Reisesack und wickelte mich darin ein. Er war warm und weich. Ich zog mir die Kapuze so tief ins Gesicht, wie es ging, und dachte an die Nacht im Reich der Fae, in der Felurian den Schatten gesammelt hatte.
Dann dachte ich an die Universität, an Wil und Sim und an Auri, Devi und Fela. Ich war dort nie besonders beliebt gewesen, und
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