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Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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aus dicker, weicher Wolle in satten Farben gefertigt. Darunter kam nicht Erde, sondern ein Dielenboden. Statt flackernder Talgkerzen oder Fackeln gab es Kerzen aus Bienenwachs oder Lampen, die ein sauberes, weißes Öl verbrannten. Einmal sah ich durch ein Fenster in der Ferne sogar den stetigen roten Schein einer Sympathielampe.
    Bei ihrem Anblick begriff ich vollends, dass ich es hier nicht mit einem Völkchen zu tun hatte, das in der kargen Bergwelt mühsam sein Leben fristete. Diese Menschen lebten nicht von der Hand in den Mund. Sie aßen nicht täglich Kohlsuppe und mussten sich auch nicht vor dem Winter fürchten. Sie lebten in einem behaglichen und zweckmäßigen, wenn auch unauffälligen Wohlstand.
    Eigentlich war es noch besser. Zwar gab es in Haert keine prunkvollen Säle mit Statuen, und niemand trug prächtige Kleider oder hatte Diener, doch war jedes Haus für sich ein kleines Herrenhaus.
     
    »Was dachtest du denn?« Vashet sah mich lachend an. »Dass einige von uns, sobald sie das Rot des Söldners tragen, wegziehen und ein Leben in Saus und Braus führen, während ihre Familien ihr eigenes Badewasser trinken müssen und an Skorbut sterben?«
    »Ich habe überhaupt noch nicht darüber nachgedacht«, gestand ich und sah mich um. Vashet hatte soeben angefangen, mich im Schwertkampf zu unterrichten. Doch in den vergangenen zwei Stunden hatte sie mir nur die verschiedenen Arten gezeigt, es zu halten. Als sei es ein Säugling und nicht ein Stück Stahl.
    Jetzt, wo ich wusste, wonach ich Ausschau halten musste, entdeckte ich Dutzende von Häusern, die geschickt in die Landschaft eingepasst waren. Einige schwere Holztüren waren direkt in den Felsen eingelassen. Andere Häuser sahen aus wie Steinhaufen. Wieder andere hatten mit Gras bewachsene Dächer und man konnte sie nur an den emporragenden Ofenrohren erkennen. Auf einem solchen Dach graste eine dicke Ziege. Jedes Mal, wenn sie den Hals streckte, um ein Maul voll Gras abzurupfen, schwang ihr Euter hin und her.
    »Sieh dir die Gegend an.« Vashet drehte sich langsam um sich selbst und betrachtete die Landschaft. »Der Boden ist zu karg für Äcker und zu steinig für Pferde. Die Sommer sind zu nass für Weizenund zu rauh für Obst. In manchen Gebirgen findet man Eisen, Kohle oder Gold, aber nicht hier. Im Winter liegt der Schnee mannshoch, im Frühjahr reißt dich der Wind um.«
    Vashet wandte sich mir zu. »Dieses Land gehört uns, weil es sonst niemand will.« Sie zuckte mit den Schultern. »Oder genauer, weil niemand es wollte, haben wir uns hier niedergelassen.«
    Sie hängte sich das Schwert über die Schulter und sah mich nachdenklich an. »Setz dich und hör zu. Ich will dir eine Geschichte erzählen, die sich vor langer Zeit zugetragen hat.«
    Ich setzte mich ins Gras und Vashet nahm auf einem Stein Platz. »Vor langer Zeit«, begann sie, »wurden die Adem aus ihrem angestammten Land vertrieben, wir wissen nicht mehr, warum. Jedenfalls nahm uns jemand unser Land weg oder verwüstete es, und wir mussten Hals über Kopf fliehen. Lange zogen wir durch die Lande, ein Volk von Bettlern. Sobald wir uns an einem Ort niederließen und unsere Herden weideten, vertrieben unsere neuen Nachbarn uns wieder.
    Wir waren damals ein wildes, kriegerisches Volk, sonst gäbe es uns heute nicht mehr. Doch waren wir unseren Gegnern zahlenmäßig unterlegen und mussten deshalb immer wieder weiterziehen. Endlich gelangten wir in dieses karge, windige Land, das niemand sonst wollte. Hier blieben wir und schlugen Wurzeln.«
    Vashet ließ den Blick über die Umgebung schweifen. »Doch konnte das Land uns wenig mehr geben als eine Weide für unsere Herden, Steine und den ewigen Wind. Da wir den Wind nicht verkaufen konnten, verkauften wir unsere kriegerischen Fähigkeiten, und nach und nach wurden wir zu dem, was wir heute sind, zu gefährlichen und stolzen Kriegern, beharrlich wie der Wind und stark wie der Fels.«
    Ich wartete, bis ich sicher war, dass Vashet zu Ende gesprochen hatte. »Auch mein Volk zieht von einem Ort zum anderen«, sagte ich dann. »Wir sind unstete Wanderer und unsere Heimat ist überall und nirgendwo.«
    Vashet zuckte mit den Schultern und lächelte. »Ich habe dir wohlgemerkt nur eine Geschichte erzählt, eine sehr alte. Mach daraus, was du willst.«
    »Ich liebe Geschichten«, sagte ich.
    »Eine Geschichte gleicht einer Nuss«, meinte Vashet. »Nur ein Narr schluckt sie im Ganzen und erstickt daran. Nur ein Narr wirft sie weg, weil er sie für

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