Die Furcht des Weisen / Band 2: Die Königsmörder-Chronik. Zweiter Tag
würdig bist, in die Schule aufgenommen zu werden.«
»Tempi?«
»Jemand, dessen Wort etwas gilt.«
»Also du«, sagte ich langsam.
Vashet grinste, klopfte an ihre Höckernase und zeigte auf mich. »Du musstest nur zweimal raten. Solltest du einmal so gut sein, dass ich mich nicht mehr für dich schämen muss, spreche ich für dich und dann kannst du die Prüfung machen.«
Sie flocht die Grashalme weiter mit flinken, geschickten Fingern ineinander. Ich hatte noch nie erlebt, dass ein Adem sich während des Sprechens mit derlei müßigen Spielchen vergnügten. Das konnten sie auch gar nicht, sie brauchten zum Sprechen ja eine freie Hand. »Wenn du die Prüfung bestehst, bist du kein Barbar mehr. Tempi wäre gerechtfertigt und alle wären zufrieden. Natürlich abgesehen von denen, die es nie sind.«
»Und wenn ich sie nicht bestehe? Oder du findest, dass ich dafür zu schlecht bin?«
»Dann wird es kompliziert.« Vashet stand auf. »Komm, Shehyn will mit dir sprechen. Es wäre unhöflich von uns, sie warten zu lassen.«
Vashet führte mich zu der Gruppe niedriger Häuser aus Stein zurück, von denen ich anfangs angenommen hatte, sie wären der ganze Ort. Inzwischen wusste ich, dass es sich um die Schulgebäude handelte. Die Schule ähnelte einer kleinen Universität, allerdings ohne geregelten Tagesablauf, wie ich ihn kannte.
Auch eine vergleichbare Rangordnung gab es nicht. Wer Rot trug, wurde mit Ehrerbietung behandelt, und Shehyn schien die Anführerin zu sein. Davon abgesehen konnte ich ein hierarchisches Gefüge nur in vagen Ansätzen erkennen. Tempi bekleidete offensichtlicheinen sehr geringen und wenig geachteten Rang, Vashet einen sehr hohen.
Bei unserem Eintreffen absolvierte Shehyn gerade einen Ketan. Ich sah stumm zu, während sie sich mit der Geschwindigkeit auslaufenden Honigs bewegte. Ein Ketan wird schwieriger, je langsamer man ihn ausführt, doch Shehyn machte nicht den kleinsten Fehler.
Sie brauchte noch eine halbe Stunde, bis sie fertig war, dann öffnete sie das Fenster. Mit dem Wind drangen der Duft des sommerlichen Grases und das Rauschen der Blätter herein.
Shehyn setzte sich. Sie atmete nicht schneller als sonst, auch wenn ein dünner Schweißfilm ihre Haut bedeckte. »Hat Tempi dir von den neunundneunzig Geschichten erzählt?«, fragte sie ohne Umschweife. »Von Aethe und den Anfängen der Adem?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Gut. Dazu ist er auch gar nicht berechtigt, und er könnte sie nicht richtig erzählen.« Shehyn wandte sich an Vashet. »Wie geht es mit der Sprache voran?«
»Einigermaßen schnell«, antwortete Vashet.
Jedoch.
»Sehr gut«, sagte Shehyn auf Aturisch. Sie sprach mit einem leichten Akzent. »Dann spreche ich jetzt deine Sprache, damit du mich besser verstehst und weniger nachfragen musst.«
Ich bekundete mit einer Geste meinen
aufrichtigen Dank.
»Die Geschichte spielt vor langer Zeit«, begann Shehyn feierlich. »Damals gab es weder diese Schule noch den Weg des Schwertbaums. Und die Adem hatten noch nie von Lethani gehört. Die Geschichte handelt davon, wie diese Dinge entstanden sind. An der ersten Schule der Adem wurde nicht der Schwertkampf unterrichtet, wie man erwarten könnte. Ihr Gründer war ein Mann namens Aethe, der nach vollkommener Beherrschung von Pfeil und Bogen strebte.«
Shehyn sah mich an. »Du musst wissen, dass der Gebrauch des Bogens damals sehr verbreitet war und seine Beherrschung als hoch angesehene Kunst galt«, erklärte sie. »Wir lebten als Schäfer und wurden von unseren Feinden hart bedrängt. Der Bogen war die beste Waffe für unsere Verteidigung.«
Sie lehnte sich zurück und fuhr mit der Geschichte fort. »Aethe wollte ursprünglich gar keine Schule gründen. Damals gab es keineSchulen. Er wollte nur seine Fertigkeit im Bogenschießen verbessern. Er widmete sich dieser Aufgabe mit ganzer Kraft, bis er auf dreißig Schritt Entfernung einen Apfel vom Baum schießen konnte. Dann übte er weiter, bis er den Docht einer brennenden Kerze traf. Bald blieb als einzige Herausforderung noch ein im Wind hin und her flatterndes Seidentuch. Aethe übte weiter, bis er im Voraus spürte, aus welcher Richtung der Wind wehen würde, und ab da traf er auch das Tuch.
Die Kunde seiner großen Kunst verbreitete sich, und schon bald wurde er von anderen aufgesucht. Unter ihnen war eine junge Frau namens Rethe. Erst zweifelte Aethe, ob sie überhaupt stark genug sei, den Bogen zu spannen, doch schon bald galt sie als seine beste
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