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Die Gabe der Amazonen

Die Gabe der Amazonen

Titel: Die Gabe der Amazonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Kiesow
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der Hand in die Luft, aber seine Augen öffneten sich nicht. Viburn legte die Ellenbogen seines Opfers auf den Tisch, bettete liebevoll den Kopf darauf und trat zurück. Nachdem er den eigenen Hut und seine Jacke auf einer Bank abgelegt hatte, streifte er die geliehene Jacke über und versteckte die langen Locken unter der Schifferkappe.
    Ich hatte all das wie durch einen roten Nebel wahrgenommen, während ich vorsichtig eine feuchte, geschwollene Stelle auf meinem Schädel betastete.
    Viburn kam zu mir zurück. Offenbar sah er mir an, daß es mir nicht besonders gut ging, denn er sprach wie mit einem kranken, fiebernden Kind: »Ich gehe jetzt zu Mädchens Tisch hinüber. Du wartest einen Augenblick und kommst mir dann nach. Verstanden? Ich will die Burschen ein wenig ablenken. Du hältst dich zurück, bis der geeignete Moment gekommen ist. Dann schnappst du dir Mädchen und läufst mit ihr nach draußen. Dort wartet ihr auf mich. Alles klar?«
    »Aber ... wie?«
    »Stell jetzt keine dummen Fragen, sondern tu genau das, was ich dir eben gesagt habe, Arve!«
    Dann ließ er mich stehen, während ich mich noch bemühte, mir seine Anweisungen einzuprägen.
    Er ging zur Theke und ließ sich einen vollen Bierkrug geben. Nachdem er einen tiefen Zug genommen hatte, schlenderte er mit unsicheren Schritten zum Tisch mit Mädchen und den Hafenarbeitern hinüber. Einen Augenblick lang fürchtete ich, Mädchen könne ihn erkennen und mächtiges Aufsehen verursachen, aber Mädchen rollte hilflos mit den Augen und war vermutlich nicht einmal mehr in der Lage, sich selber zu erkennen.
    Viburn blieb bei den Schauerleuten stehen, lächelte ihnen zu und hob den Bierkrug. Einer der Männer erwiderte den Gruß. Da brüllte Viburn so laut, daß ich es auf meinem fernen Beobachtungsposten hören konnte: »Ach so! Alle Flußschiffer stinken wie die Wühlschweine! Jeder Mann auf dem Fluß ist dümmer als ein Wels, sagst du? Na, das wollen wir doch einmal sehen!«
    Damit leerte er den Bierkrug über dem Kopf des hoffnungslos verwirrten Zechers aus.
    Der Hafenarbeiter sprang auf, blieb schwankend stehen und starrte Viburn ungläubig an.
    »Was murmelst du da?« brüllte Viburn. »Sag es ruhig laut: Wir fahren auf dem Fluß, weil wir uns nicht aufs Meer trauen?«
    Viburn knallte dem Mann die rechte Faust ans Kinn. Es war ein wuchtiger Schlag, und der Schauermann flog rücklings über den Tisch.
    Bierkrüge polterten zu Boden, eine Flasche zerklirrte. Die betrunkenen Hafenarbeiter schrien wild durcheinander und mühten sich, auf die Beine zu kommen.
    Überall im Neunauge waren Flußschiffer aufgesprungen. Sie stießen wilde Flüche aus und setzten sich in Bewegung.
    Der Wirt rüttelte den Troll wach und brüllte ihm etwas ins Ohr. Plötzlich festigte sich in meinem benebelten Kopf der Gedanke, daß dies der geeignete Augenblick sein könnte, von dem Viburn eben gesprochen hatte. Ich hastete durch die engen Tischreihen. Der Raum um mich her schwankte wie eine Kogge im Sturm. Ich biß die Zähne zusammen. Im Schankraum tobte eine Rauferei mit der urtümlichen Gewalt einer Naturkatastrophe. Viburn hatte seine Worte gut gewählt. Die Gäste im Neunauge waren entweder Seeleute, Flußschiffer oder Hafenarbeiter. Die Flußschiffer stellten die größte Gruppe, aber die Seemänner verbündeten sich sofort mit den Schauerleuten.
    Ich kam nur langsam voran. Wurfgeschosse zischten haarscharf an meiner Nase vorbei. Ungezielte Tritte und verirrte Boxhiebe trafen mich mehr oder weniger schmerzhaft und stießen mich vor und zurück. Auf meinem Weg hätte ich manch einen prächtigen Schwinger landen können, aber ich versuchte es gar nicht erst. Endlich sah ich Mädchen unmittelbar vor mir. Ihr Oberkörper war auf den Tisch gesunken, um ihre Mundwinkel spielte ein stilles Lächeln. Als ich ihre Hand ergriff, wäre sie fast von der Bank gerutscht. Ich tätschelte ihre Wange – man könnte auch sagen, ich gab ihr ein, zwei kräftige Ohrfeigen –, aber damit erreichte ich gar nichts. Es gelang mir nicht einmal, das selige Lächeln von ihrem blassen Gesicht zu vertreiben. Da stieß ich einen Seufzer aus, bückte mich und warf mir die leblose Gestalt über die Schulter.
    Der Weg zur Tür war nicht so schwer, wie ich es befürchtet hatte. Inzwischen schien der Troll vollends aufgewacht zu sein. Und eben hatte er begonnen, sich einen neuen Biereimer zu verdienen. Aus den Augenwinkeln sah ich den mächtigen, zottelhaarigen Schädel, der sich drohend über das

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