Die Gabe der Magie
Sonnenlicht und
schließlich ganz verschwunden waren.
9
SADIMA TRIEB LANGSAM DIE HERDE NACH HAUSE,
SPIELTE AUF IHRER HOLZFLÖTE UND GAB SICH MÜHE, DIE MELO DIE ruhig und gleichmäßig klingen zu
lassen. Die Ziegen waren alle trächtig, und ihre Hüften schaukelten wie bei
dicken Frauen, die ihre Wäschekörbe schleppten. Sie dachten an nicht viel: an
Gras, das kalte Wasser im Bach und ihre Ungeborenen,
die sie von innen traten. Und sie alle heg ten die schläfrige Hoffnung,
dass Korn in ihrem Trog sein würde, wenn sie erst zurück im Ziegenstall wären.
Sadima lächelte. Die
meisten ihrer Arbeiten verrichte te sie zu Hause. Sie hatte den Sauerquark eingewickelt und zum
Trocknen im Frühlingshaus aufgehängt, und die älteren Käselaibe hatte sie in
geschmolzenes Bienenwachs getaucht. Micah hatte ihr die Geschichte einer
riesigen Stadt irgendwo in einem anderen, weit entfernten Königreich erzählt,
wo die Zigeuner tanzten und eine Prinzessin in einem Turm lebte, der bis über
die Wolken in den Himmel ragte. Sie konnte ihn in ihrer Vorstellung sehen, und
sie wollte ihn malen.
Aber sie würde auf einen Abend warten
müssen, an dem ihr Vater früh zu Bett ginge.
Sie musste ihre Malsa chen vor ihm verstecken. Er hasste es, sie dabei zu
ertappen, wie sie wach war, aber nicht arbeitete. Micah gegenüber verhielt er sich
ebenso. So gut wie nie waren seine eigenen Hände müßig – außer er war in den
Fängen der Traurigkeit.
Als Sadima um die letzte Kurve bog,
erblickte sie ihren Bruder, der mit strahlenden Augen auf sie zurannte.
»Schnell! Ich habe Papa beschwatzt, dass du mich begleiten darfst, um ein Pferd
zu kaufen. Lass ihm bloß keine Zeit, es sich noch anders zu überlegen.«
Sadima grinste ihren Bruder an, klopfte
der zuletzt trottenden Ziege aufs Hinterteil und bat sie, doch ein bisschen schneller zu laufen. Die Tiere bewegten
sich daraufhin rascher, um ihr einen Gefallen zu tun. »Wie hast du es denn
geschafft, Papa davon zu überzeugen …«, setzte sie an, doch Micah
unterbrach sie.
»Er sieht doch, wie gut du mit Pferden
umgehen kannst. Ich habe ihm gesagt, dass ich deine Hilfe brauche, um ein gutes
Pferd auszusuchen. Und jetzt beeil dich.«
»Danke, Micah«, sagte Sadima, noch immer
lächelnd, und klatschte in die Hände, damit die Ziegen zu traben begannen. Es
geschah nur selten, dass sie irgendwo hingehen durfte, vor allem zum
Marktplatz. Das passierte so gut wie nie. Es machte ihr Angst – und doch wollte
sie so gerne aufbrechen.
»Schnell«, sagte Micah, als sie beim Tor
ankamen.
Sadima ließ die Ziegen weitertraben,
geradewegs über den Hof und in ihren Stall. Dann pferchte sie sie ein und
rannte zurück zur Scheune. Dort befüllte sie zwei Eimer mit Korn und hastete
zurück zu den langen, hölzernen Futtertrögen. Micah war bereits wieder im Haus,
als sie fertig war und den Weg hinaufeilte. Mit einem Stoß öffnete sie die Tür
und sah ihren Vater auf der Holzbank vor der Feuerstelle sitzen. Sie wurde
langsamer und setzte einen ernsten Gesichtsausdruck auf, während sie durch den
Flur ging.
Aber kaum hatte sie die Tür ihres
Schlafzimmers hinter sich geschlossen, tanzte sie zur Waschschüssel, um sich
das Gesicht zu säubern. Sie schlüpfte aus ihrer verblichenen Arbeitskleidung
und zog ihr einziges gutes Kleid an. Es reichte ihr mittlerweile nur noch bis
zur Wade, aber es war immerhin nicht zu eng. Micah sagte, sie wuchs wie ein Weidenschössling
– immer nur nach oben.
Sadima kämmte sich die Haare und griff
hinter sich, um die verknoteten Enden, die auf ihrem Rücken auflagen, zu
entwirren. Dann arbeitete sie sich hoch, zog und zerrte ungeduldig und zittrig
vor Aufregung an den Strähnen. Sie vergewisserte sich, dass ihre Pinsel und
Farben sicher unter einer losen Bodenplanke versteckt lagen, denn sie war sich
beinahe sicher, dass Papa manchmal ihre Sachen durchsuchte.
Micah wartete auf sie, als sie herauskam.
Er hob die Brauen und machte mit dem Kopf eine Bewegung Richtung Tür. Schnell.
»Nimm dein
Umhängetuch mit«, sagte ihr Vater. Mi cah ließ die Schultern sinken. Dies war ein alter Streit, der sich
schnell ausweiten konnte. Papa war überzeugt, dass es sie umbringen würde, wenn
sie sich eine Erkältung einfinge. Er war sicher, dass alles sie töten
könnte.
»Aber es ist doch so warm …«, setzte
Sadima an, schloss ihren Mund jedoch wieder, als sie sah, wie die Augen ihres
Vaters dunkel und leer wurden. Ein weiteres Wort und er würde zornig werden.
Zwei Worte mehr
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